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Als Poet Laureate sprach Amanda Gorman bei der Amtseinführung.

© AFP

Die Rückkehr der Sprachkunst: Amanda Gorman ist die Stimme der Demokratie

Mit dem Auftritt der jungen Dichterin bei Joe Bidens Amtseinführung kam die Kultur in das amerikanische Leben zurück. Die Kolumne Spiegelstrich.

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Sie erreichen ihn auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

In Coronadeutschland hat ein Wahljahr begonnen, in welchem drei Technokraten, nüchterne Männer namens Laschet, Söder, Scholz, und womöglich eine Technokratin, Annalena Baerbock, um das Kanzleramt ringen. Es ist ein Jahr, in dem Wissenschaftler wie Christian Drosten darum ringen, noch durchzudringen: Die Nation wirkt erschöpft.

Drosten kämpft gegen das, was er im „Spiegel“ „Argumentationen ohne Begründung, ohne Inhalt, mit unfairen Analogieschlüssen“, nennt, diesen wachsenden „Bereich der Verdrängung wissenschaftlicher Erkenntnisse“.

Abstände vergrößern sich auch zwischen Regierenden und Regierten. Die Kanzlerin möchte nicht permanent erklären und erklärt zu wenig. Die Wahlkämpfer geben selten Fehler zu. Warum aber all die Fehler in der politischen Kommunikation, wieso diese ständigen Versprechungen baldiger Öffnungen der Gesellschaft, die doch nie kamen, die späten Entscheidungen, von denen die Beteiligten im Moment der Entscheidung wussten, dass diese ja eben zu spät kam?

Amanda Gorman sprach von hellen und dunklen Kräften

In Israel ist die Impfung eine nationale Kraftanstrengung, alles, was nur eben möglich ist, wird sofort getan. Und bei uns? Als ich im vergangenen September aus den USA nach Deutschland zurückkehrte, dachte ich, aus einem dröhnend handlungsunfähigen Land in die Heimat zu kommen, die zusammenhalte und ihre Richtung kenne.

Als in Washington nun Amanda Gorman, 22 Jahre alt, predigend und rappend, mit Händen und Armen tanzend und dirigierend, ihr Gedicht „The hill we climb“ vortrug, schenkte sie unserer Gegenwart Verdichtung durch Dichtung, auch Deutung. Und wie grenzensprengend, wie angstlos, wie traumsüchtig dieser Moment war.

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Amanda Gorman stand vor dem Kapitol, zwei Wochen nach dem vom damaligen Präsidenten initiierten Sturm auf dieses Gebäude, und sprach bei der Amtseinführung des neuen Präsidenten von einer dunklen Kraft, die „unser Land lieber zertrümmern als teilen würde“. Sie sprach von einer hellen Kraft, der Morgendämmerung, die wir befreien müssen, jenem Licht, das wir sehen können, wenn wir den Mut haben; dem Licht, das wir sein können, sein müssen: „The new dawn blooms as we free it/ For there is always light,/ if only we're brave enough to see it/ If only we're brave enough to be it.“

Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.
Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.

© Tobias Everke

Es war die Rückkehr der Kultur in das amerikanische Leben; nach 30 573 Lügen des ehemaligen Präsidenten war es die Rückkehr der Sprachkunst, des Denkens vor dem Formulieren, und ebenso war es die Rückkehr des Auftritts. Wie lange das her ist, dort wie hier, dass Menschen auftraten und ihre Kunst darboten. Es war, feinsinnig, sogar eine Entgegnung auf Joe Biden.

Der neue Präsident sagte in seiner Rede: „Die Demokratie hat gesiegt.“ Gorman, mit rotem Haarreif und gelbem Mantel, sprach von der Demokratie im Futur, von der Demokratie als Idee, die beschädigt, aber nicht dauerhaft besiegt werden könne, die noch gar nicht existiert habe.

Sie ging nicht ins politische Detail, sie ist Dichterin. Aber sie könnte gemeint haben, dass eine Demokratie, die jahrhundertelang Frauen nicht wählen lässt, Schwarze nicht wählen lässt, Migranten und einstige Häftlinge und alle sonstwie Unerwünschten gleichfalls nicht wählen lässt, die zudem für Resultate sorgt, nach welchen dann die Verlierer die Sieger regieren, eine Demokratie eben, in welcher Wissenschaftler wie Anthony Fauci vom Präsidenten zum politischen Feind erklärt werden, eine Demokratie schließlich, in welcher 50 demokratische Senatorinnen und Senatoren 40 Millionen Menschen mehr repräsentieren als 50 republikanische Senatorinnen und Senatoren, noch gar keine Demokratie ist. Die Reise hört nicht auf, die Anstrengung auch nicht, dort nicht, hier nicht.

Klaus Brinkbäumer

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