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Die preisgekrönte New Yorker Autorin und Illustratorin Nora Krug ist derzeit zu Gast bei der American Academy in Berlin.

© Lars von Törne

Nora Krug auf Spurensuche in Berlin: Herr Müller zieht in den Krieg

Ein Flohmarktfund mit Bildern eines Massakers ist der Ausgangspunkt des neuen Projekts der preisgekrönten Autorin und Illustratorin Nora Krug. Jetzt hat sie dafür in Deutschland und Polen recherchiert.

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Das Album im Din-A-5-Format wirkt äußerlich unscheinbar. „Erinnerungen“ steht auf dem abgegriffenen, braun-grünen Buchrücken. Der Inhalt der kleinen Fotosammlung hat Nora Krug nicht mehr losgelassen, seit diese ihr vor gut zehn Jahren bei einem Deutschlandbesuch auf einem Flohmarkt in Wedding in die Hand fiel und sie darin erschütternde Bilder entdeckte.

Jetzt ist der Berliner Zufallsfund der Ausgangspunkt einer Recherche, die die seit vielen Jahren in New York lebende, mit Dutzenden Branchenpreisen ausgezeichnete deutsch-amerikanische Autorin und Illustratorin in Berlin vorangetrieben hat.  

„Ich sammle schon seit Langem Material aus den 1930er und 40 Jahren auf Flohmärkten und bei Wohnungsauflösungen“, erzählt Nora Krug, die 1977 in Karlsruhe zur Welt kam, 2002 zum Studium in die USA ging und seit 2007 Professorin für Illustration an der Parsons School of Design in New York City ist. „Objekte sind für mich stille Zeugen der Geschichte.“

Diese Bilder zeigen den Anfang des Krieges, der sich dann zum Weltkrieg ausweitet.

Nora Krug über das Fotoalbum, das sie vor einigen Jahren bei einem Berlin-Besuch auf dem Flohmarkt entdeckt hat.

Krug sitzt an einem Dezembermorgen an einem großen Holztisch in der Bibliothek der American Academy am Wannsee. Vor ihr liegt das Album vom Weddinger Flohmarkt, daneben ein Stapel historischer Fotos, Briefe, Postkarten und andere Dokumente. In den vergangenen Monaten war die 48-Jährige als Fellow zu Gast an der American Academy. Von hier aus hat sie eine umfangreiche Erkundung gestartet, deren Ergebnisse die Grundlage für ihr nächstes Buch bilden sollen.

Dieses Fotoalbum von einem Flohmarkt in Berlin-Wedding ist der Ausgangspunkt von Nora Krugs neuem Rechercheprojekt zur deutschen Geschichte.

© Lars von Törne

Mit ihrer grafischen Erzählung „Heimat – Ein deutsches Familienalbum“ über die Geschichte der eigenen Familie und deren Verstrickung mit dem Nationalsozialismus hat sie sich als Autorin und Illustratorin international einen Namen gemacht. In dem ab 2018 in zahlreichen Sprachen veröffentlichten Buch verbindet sie Texte und Fotos, Zeichnungen, Comic-Elemente, Dokumente und persönliche Fundstücke zu einzigartigen Wort-Bild-Collagen.

Nora Krug in der Bibliothek der American Academy, wo sie die vergangenen Monate als Fellow gearbeitet hat.

© Lars von Törne

Krugs im Dialog mit einer ukrainischen Journalistin und einem russischen Künstler entstandene Dokumentation „Im Krieg – Zwei Tagebücher aus Kyiv und St. Petersburg“ über die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine, die 2024 gesammelt auf Deutsch erschien, wurde von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten Bücher des Jahres ausgezeichnet.

Hakenkreuz und Spaten

Eines der ersten Schwarz-Weiß-Fotos in dem Album, das Nora Krug jetzt dem Besucher auf dem Tisch der American Academy zuschiebt, zeigt einen jungen Mann in Uniform, der etwas ungelenk auf einer aus Ästen gebauten Bank sitzt.

Auf seinem Arm prangen ein Hakenkreuz und ein Spaten-Symbol: das Abzeichen des „Reichsarbeitsdienstes“, wie Krug erklärt. Das war eine Organisation im nationalsozialistischen Deutschland, in der junge Männer vor Beginn ihres Wehrdienstes einen Arbeitsdienst leisteten.

Der junge Mann in der Nazi-Uniform, so viel hat Nora Krug inzwischen herausgefunden, hieß mit Nachnamen Müller und war im Luftwaffennachrichtendienst der Wehrmacht.

© Lars von Törne

Die folgenden Seiten zeigen Aufmärsche der Wehrmacht in Deutschland sowie militärische Einsätze in Polen und später auch in Belgien, Frankreich, Russland und der Ukraine. Man sieht zerstörte Häuser, Militärfahrzeuge, Pferdekutschen, tote Soldaten, Militärlager, eine Weihnachtsfeier vor einem Porträt Adolf Hitlers und immer wieder Hakenkreuzfahnen.

Eines von zahlreichen Massakern an Zivilisten

Die sechs Bilder, die Nora Krug elektrisierten, finden sich weiter hinten im Album. Sie zeigen deutsche Soldaten, die auf einem städtischen Platz eine Gruppe unbewaffneter Männer umringt haben. Die Zivilisten tragen Anzüge, manche sind anhand ihrer Priesterhemden als kirchliche Würdenträger zu erkennen, einige heben die Hände.

Schaut man genauer hin, sieht man, dass hinter den Stehenden vor einer Wand mehrere männliche Leichen liegen, ein Bild zeigt einen Toten in Nahaufnahme, aus dessen Kopf Blut auf das Kopfsteinpflaster gelaufen ist.

Diese sechs Bilder des Massakers von Bydgoszcz hat Nora Krug im hinteren Teil des Fotoalbums vom Flohmarkt entdeckt.

© Lars von Törne

Die Bilder dokumentieren, das hat Nora Krug inzwischen herausgefunden, die Tötung polnischer Männer durch deutsche Soldaten kurz nach dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939. Die Aufnahmen wurden in der polnischen Stadt Bydgoszcz gemacht, die auf Deutsch Bromberg hieß und seit 1920 zu Polen gehörte.

Es war eines von zahlreichen Massakern an polnischen Zivilisten, die die Deutschen nach ihrem Einmarsch verübten. Begründet wurde das in der nationalsozialistischen Propaganda als Vergeltung für den sogenannten Bromberger Blutsonntag, einen polnischen Aufstand kurz nach dem deutschen Angriff auf Polen, dem viele in Bromberg lebende Deutsche, aber auch Polen zum Opfer fielen.

Ich wollte in meinem nächsten Buch eigentlich nicht noch einmal den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus behandeln.

Nora Krug

„Ich wollte in meinem nächsten Buch eigentlich nicht noch einmal den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus behandeln, sondern ein ganz anderes Thema“, erzählt Krug. Doch dann hat sie im vergangenen Jahr mit einem Stipendium an der renommierten Yale University gearbeitet, eingeladen vom Leiter des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, einer Sammlung von Interviews mit Holocaust-Überlebenden. Hier beschäftigte sie sich unter anderem mit dem Thema „Rache“ – und ihr kam der Berliner Flohmarktfund wieder in den Sinn.

Für ihr aktuelles Projekt verbindet Nora Krug journalistische Recherchetechniken mit essayistischen Elementen. 

© Lars von Törne

„Diese Bilder zeigen den Anfang des Krieges, der sich dann zum Weltkrieg ausweitet“, sagt Krug und zeigt auf die Bilder vor sich auf dem Tisch der American Academy. „Die Deutschen haben hier ihre Terrormaßnahmen geübt.“

Sie beschloss, die Fotosammlung zum Ausgangspunkt einer Recherche zu machen, die eine journalistische Arbeitsweise wie für ihr Buch „Im Krieg“ mit essayistischen Elementen und eigenen Einschätzungen verbindet, wie sie „Heimat“ auszeichneten. Auch dort stand am Anfang eine von persönlicher Neugier getriebene historische Recherche, die Teil einer umfassenden Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der ihres Herkunftslandes wurde.

Recherchiert wie eine Detektivin

In den vergangenen Monaten hat Nora Krug wie eine Detektivin versucht, die Hintergründe der Bilder in ihrem Flohmarktalbum zu erhellen und dabei mit Historikern, Foto-Experten, Archivaren und anderen Fachleuten zusammengearbeitet. Sie hat in Institutionen wie der Staatsbibliothek und dem Deutschen Historischen Museum recherchiert sowie polnische und deutsche Quellen durchgearbeitet.

Mit ihrer Arbeit will Krug einen neuen Blick auf die Geschichte werfen – ein bisschen so, wie es in den 1990er Jahren die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung getan hat. Aus der zeigt Krug hier auf ihrem Rechner ein Foto, das dieselbe Situation wie ihre Flohmarktfunde dokumentiert.

© Lars von Törne

Ihre bisherigen Erkenntnisse hat sie in einem Word-Dokument zusammengefasst. Es ist 102 Seiten lang. Gezeichnet hat sie noch nichts: „Das kommt immer ganz am Schluss.“

Inzwischen scheint festzustehen, dass das Album wahrscheinlich dem jungen Mann in der Nazi-Uniform gehörte, der „R. Müller“ hieß, wie handschriftliche Vermerke auf den Rückseiten der Fotos nahelegen. „Er war im Luftwaffennachrichtendienst“, sagt Krug.

Müller steht für alle Deutschen, vor allem für die Mitläufer.

Nora Krug

Möglicherweise stammte er aus Dresden, das lassen zumindest mehrere Fotos vermuten, die dort aufgenommen wurden, wie Nora Krug inzwischen weiß, darunter eines von einem Rekruten-Sammelplatz für die Nachrichtentruppe der Luftwaffe. Unklar ist bislang auch, welche der Fotos von Herrn Müller selbst oder ihm nahestehenden Personen aufgenommen wurden – und welche er sich möglicherweise bei anderen Soldaten oder Fotografen bestellt hat.

Mit seinem Allerweltsnamen ist der Soldat ein schwieriges Recherche-Objekt, konkrete Informationen über ihn hat sie bislang nur wenige. Zwei Aufrufe in Radiosendungen, in denen Krug in den vergangenen Wochen interviewt wurde und in denen anschließend Hörerinnen und Hörer gefragt wurden, ob sie etwas über „R. Müller“ wüssten, blieben bislang ohne konkrete Ergebnisse.

Zerstörte Häuser, Militärfahrzeuge, tote Soldaten, eine Weihnachtsfeier mit dem Porträt Adolf Hitlers: Das sind einige der weiteren Motive im Fotoalbum vom Flohmarkt.

© Lars von Törne

Auch die Geschichten der anderen im Album abgebildeten Menschen sind schwer zu rekonstruieren. Gerne würde Nora Krug den Opfern der auf den Massaker-Bildern dokumentierten Erschießung Namen geben und mehr über sie, die Täter und die Ereignisse jener Zeit erfahren.

Bis heute sind nicht alle Opfer und nur wenige Täter historisch erforscht. In dieser Woche besucht sie in Bydgoszcz Archive und befragt mithilfe einer Dolmetscherin Zeitzeugen in Altersheimen, darunter eine 103-Jährige und eine 88-Jährige.

Sie will eingefahrene Betrachtungsweisen dekonstruieren

Das Fotoalbum ist für Nora Krug allerdings nur der Anlass für eine viel umfassendere Betrachtung. „Es soll in meinem Buch um den Versuch gehen, Geschichte zu ergründen“, sagt sie. Denn der Soldat und seine fotografisch dokumentierten Erlebnisse erst an der Ost- und später an der Westfront sind für sie mehr als nur die persönlichen Erinnerungen eines Einzelnen: „Müller steht für alle Deutschen, vor allem für die Mitläufer“, sagt sie.

Eine ihrer Leitfragen bei dem neuen Projekt lautet: „Wie konstruieren wir Geschichte?“ Sie will eingefahrene Betrachtungsweisen dekonstruieren, sagt sie. Ein wenig so, wie es in den 1990er Jahren die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung getan hat, die damals vielen Deutschen die Kriegsverbrechen der Wehrmacht in ihrer ganzen Tragweite erstmals anschaulich vor Augen geführt hat.

Für ihre Recherchen hat Krug auch Briefe, Feldpostkarten und viele andere Dokumente aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gesammelt.

© Lars von Törne

Das Foto des aus der Nähe fotografierten Massaker-Opfers aus Nora Krugs Flohmarktfund zeigt eine Szene, die damals auch in der Hamburger Wanderausstellung zu sehen war, wenn auch aus einer etwas anderen Perspektive aufgenommen. Bei der Wehrmachtsausstellung war das Bild des Erschossenen allerdings ohne konkrete Ortsangaben gezeigt worden. Durch den Flohmarktfund von Nora Krug lässt es sich jetzt dem Massaker in Bydgoszcz zuordnen.

Suche nach Zwischentönen

Krug sucht in ihrer Arbeit nach „Zwischentönen“, wie sie sagt: „Ich will keine Helden/Verbrecher-Narrative wiederholen, sondern dem Leser den Spiegel vorhalten, der sich fragen soll: ‚Tue ich jetzt genug?‘“ Auch gehe es ihr um die Frage, wieso Menschen Kriege führen, wie sich ein Frieden erreichen lässt – „oder ob das nur ein utopisches Konzept ist“, wie Krug im Herbst bei einer öffentlichen Veranstaltung der American Academy sagte. Eines ihrer Leitmotive dabei sei das Thema Gewalt und die Prägung „gewöhnlicher Menschen durch außergewöhnliche Umstände“.

Und es soll in ihrem neuen Buch auch um das Verschwinden von Erinnerung gehen, erzählt sie jetzt beim Treffen in der Bibliothek am Wannsee. Ein Thema, das 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sehr akut ist, wie Nora Krug bei der Vorbereitung ihrer Recherchereise nach Bydgoszcz feststellen musste.

Sie hatte sich mit einem 92-jährigen Zeitzeugen verabredet, der seine Erinnerungen mit ihr teilen wollte. „Er war ein in Polen lebender Deutscher, also jemand, der von den Nazis als ‚Volksdeutscher‘ bezeichnet worden wäre“, sagt sie. Die Narrative der Deutschen in Polen unterschieden sich oft von denen der Polen. Doch zu dem Gespräch kam es nicht mehr: Vor einigen Tagen erfuhr Nora Krug, dass der Mann gestorben ist.

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