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Tag 6 bei der Berlinale: Wie bleibt ein Mensch ein Mensch?
Die politischen Filme der Berlinale sind Augenöffner. Aber es gibt auch wieder einen Eklat. Und nach einer Doku über das Schicksal israelischer Geiseln erlebt unser Autor den wärmsten Moment des Festivals.

Stand:
Ganz schön eisig, die Stimmung bei der Berlinale. Vor dem Zoo-Palast hacken sie mit verrosteten Schaufeln den gefrorenen Schneematsch auf, auf dem Weg zum Berlinale-Palast tragen wir die Weltmeisterschaft im Eislangsamlaufen aus. Ausgerutscht ist das Festival bisher nicht – die Kinos sind voll von freundlichen Menschen, ich hab noch keinen schlechten Film gesehen. Stimmt irgendwas nicht? Ja, da draußen. Da gerät die ganze Welt ins Rutschen.
Handy aus, wenigstens für ein paar Stunden, wenigstens für ein paar andere Gedanken. Aber die Angst, mit der Menschheit abzurutschen – sie schlummert in uns allen. In den politischen Berlinale-Filmen wird sie spürbar bis ans eigene Herz.
Ein Haus brennt, in dem Menschen wohnen, es brennt, weil sie Ausländer sind, weil andere sie brennen sehen wollen. Die Menschen verbrennen in ihrem eigenen Haus. Wie macht man darüber einen Film? Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay greift zu einem Trick: Er dreht einen Film über ein Drehteam, das einen Film darüber drehen will. Dann gehen die Filmkassetten verloren, die Suche nach den Schuldigen beginnt und entwickelt sich rasch zu einem rasanten Verschwörungsthriller. „Hysteria“ hält uns den Spiegel der eigenen Hysterie vor. Einer Hysterie, bei der das Wesentliche aus dem Blick gerät: die Menschen, um die es eigentlich geht. Die Menschen, denen andere Menschen das Recht auf Leben absprechen.
Bleib ein Mensch! Wie soll das gehen für Yehuda Beinin? Seine Tochter Liat ist entführt worden von der Terrororganisation Hamas aus einem Kibbuz, in dem Israelis bis dahin friedlich mit Palästinensern zusammengelebt und für Frieden geworben haben. 54 Tage muss die Familie bangen, ob andere Menschen Liat Beinin das Recht auf Leben absprechen und sie kaltblütig ermorden. Die bewegende Dokumentation „Holding Liat“ erzählt das Drama aus Sicht der verzweifelt um ihre Tochter kämpfenden, aber nie die Hoffnung auf Aussöhnung aufgebenden Eltern und wird bei der Weltpremiere am Sonntagabend im Delphi-Palast mit stehenden Ovationen gefeiert. Weil die Möglichkeit gezeigt wird, Mensch zu bleiben.

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Die Berlinale will ein Ort des Dialogs sein, manchmal ist der schwer auszuhalten, manche wollen ihn erst gar nicht offen führen. Nach dem Eklat um unwidersprochen ausgerufene pro-palästinensische Parolen auf der Abschlusgala vor einem Jahr und den nach ihrer Preisgala abgegebenen Sympathiebekundungen der diesjährigen Ehrenbär-Preisträgerin Tilda Swinton für die Israel-Boykottbewegung BDS gibt es nun einen neuen Aufreger, wieder geht es um den Nahost-Krieg. In Videos in sozialen Netzwerken ist zu sehen, wie der Regisseur des Films „Queerpanorama“, Jun Li, nach der Vorstellung seines Films am Sonnabend auf der Bühne die in Deutschland verbotene israelfeindliche Parole „From the river to the sea“ ausruft. Die Berlinale bedauerte dies in einem Statement, der Staatsschutz ermittelt.
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Der Schauspieler des Films Erfan Shekarriz hatte schon vorab verkündet, die Berlinale zu boykottieren, da diese „den Genozid“ Israels an den Palästinensern unterstützen würde. Die Reaktion auf die anti-israelische Rede von Shekarriz, die Jun Li nun verlas, war allerdings eine andere als vor einem Jahr: Vertreter der Berlinale sollen nach Angaben des Festivals noch auf der Bühne der Rede widersprochen haben. Aus dem Publikum gab es neben Zustimmung und Applaus auch Buh-Rufe. Menschen riefen, Palästina solle von der Hamas befreit werden und das Lebensrecht gelte ebenso für Juden. Die Sensibilität für alle Seiten scheint zumindest bei einigen gewachsen.
Besonders um eine Versöhnung der unversöhnlichen Fronten bemüht sich die Familie von Liat Beinin. Trotz der Entmenschlichung der israelischen Geiseln durch die Hamas und der Zerstörung des Gaza-Streifens durch die israelische Armee sagt Vater Yehuda Beinin nach dem Film im Gespräch: „Für uns ist Hass kein Plan für die Zukunft.“ Mutter Chaya Beinin ergänzt: „Man muss den Nahen Osten durch verschiedene Augen sehen. Sie blicken auf unterschiedliche Realitäten. Und sie alle sind wahr.“ Gerade die politischen Filme der Berlinale – über den Behauptungswillen in der Ukraine, die stille Wut in Ostdeutschland, den Schmerz der Opfer von Rassismus, das Ringen um Frieden in Nahost - sind in diesem Jahr wirkliche Augenöffner. „Wir können nicht keine Hoffnung haben“, sagt Liat Beinin.
Als alle schon rausgehen wollen in die eisige Nacht, erhebt sich ein Mann im Publikum. Er sei Libanese, erzählt er, und er leide unter der Brutalität des israelischen Verteidigungskrieges. Die Familie Beinin habe ihm gerade gezeigt, dass das Humane noch nicht verloren sei. „Sie sind ein helles Licht in der Dunkelheit“, sagt der Mann. „Darf ich Sie umarmen?“ Es folgt der schönste, wärmste, menschlichste Moment der Berlinale.
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