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© picture alliance/dpa

Die Pflegereform, die keine ist: Die Beitragsanhebung ist das Drehen an einer kaputten Schraube

Seit ihrer Einführung 1995 leidet die Pflegeversicherung unter einem Konstruktionsfehler. Statt dass dieser behoben würde, gewöhnt man sich daran, dass Alter für viele zum Horror wird.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Es kursiert gerade ein ziemlich ruppiges Prädikat im politischen Berlin, das der Bundeskanzler selbst in die Welt gesetzt hat. Es lautet „total bekloppt“ und meinte die theatralischen Proteste der Klimaschutzgruppierung „Letzte Generation“.

Genauso gut passt das allerdings auch auf die Pflegepolitik, also aktuelles Regierungshandeln, an dem Olaf Scholz seit seiner Kanzlerwerdung maßgeblich beteiligt ist oder zumindest sein könnte.

Man darf es inzwischen nämlich durchaus „total bekloppt“ finden, wie die Politik mit dem skandalösen Umstand umgeht, dass es auf die elementaren Herausforderungen einer alternden Gesellschaft keine tragfähigen Antworten gibt.

Mehr noch: Anders als in Fragen der Klimaerwärmung und der Letzten Generation, zu denen fast alle dauernd etwas zu sagen haben und sich dann darüber auch gern streiten, lässt sich zur Pflegeproblematik kaum mal eine lautstarke und engagierte Debatte vernehmen.

Am Freitag hat zwar der Bundestag den Gesetzentwurf zur Pflegereform aus dem Haus von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (wie Scholz SPD-Mitglied) angenommen, und das war auch von ein paar kritischen Wortmeldungen begleitet worden, doch was genau wurde da beschlossen?

Ein bisschen höhere Beiträge für die einen, kurzfristig ein bisschen mehr Leistungen für andere. Aber ist damit irgendetwas schön und gut? Oder war das nicht mehr als nur die nächste Drehung an einer Schraube, deren Gewinde längst nicht mehr zieht.

Sicher kann es bei den Problemen, die mit der wachsenden Zahl von Pflegebedürftigen entstehen, in einzelnen Haushalten auch genau um die paar Euro mehr oder weniger gehen, die von der Pflegeversicherung gezahlt oder übernommen werden.

Warnungen vor der Unbezahlbarkeit gibt es seit 1995

Aber dahinter steht nach wie vor ein System, das absehbar gegen die Wand fährt, weil es umlagefinanziert ist, was keine weitere Sekunde lang noch zur Demographie dieses Landes passt.

Im Jahr 2030 werde jedem Arbeitnehmer auf der einen Schulter ein Rentner und auf der anderen ein Pflegebedürftiger sitzen. Das sagte kurz vorm Start der Pflegeversicherung der damalige Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann. Und das war 1995, vor bald 30 Jahren. Damals regierte Schwarz-Gelb unter Kanzler Helmut Kohl, rechnete man noch in D-Mark, und Olaf Scholz war gerade mal Chef der SPD Hamburg-Altona geworden.

Seit bald 30 Jahren hört die Politik, hört das ganze Land mal von hier, mal von da etwas über die Hypothek für die Pflegeversicherung (und die Rentenversicherung natürlich auch), die sich in der Bevölkerungsentwicklung verbirgt. Trotzdem wurde am grundsätzlichen Konzept, die Kosten dafür in die Arbeitswelt abzuschieben, nichts geändert.

Es braucht aber endlich andere Antworten als Beträge, die um ein paar Prozentpunkte erhöht werden. Es braucht eine dramatische Ausweitung der Gruppe der Einzahlenden, und es braucht viel mehr Steuermittel. Wann endlich möchte mal darauf reagiert werden, dass das ganze System so nicht wirklich funktioniert, dass die Schraube kaputt ist, an der man dauernd dreht?

Wann endlich wird zur Kenntnis genommen, dass die Sorgen und Probleme, die Pflegebedürftigkeit in dieser Form bedeuten, inzwischen für fast jede Familie in diesem Land ein reales Thema geworden ist?

Wann wird eine vernünftige und respektvolle Fürsorge für die Alten und die pflegebedürftig Gewordenen zu einem zentralen politischen Thema? Wie kann es sein, dass der Gedanke, dass Alter und Pflegebedürftigkeit zum Horror werden, normal geworden ist? Normal ist das nämlich nicht.

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