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Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) ist Autor der Reihe „Global Challenges“.

© Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Energien als globale Machtfaktoren: Der „Big Battle“ zwischen Alt und Neu hat begonnen

Dekarbonisierung meint nicht nur den Abschied von einer Energieart, es geht auch darum, Energiewirtschaft zu relokalisieren. Insofern war der Kanada-Wasserstoff-Deal ein Irrtum. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Jürgen Trittin

Wie lange dürfen wir im Winter duschen? Und ist der Waschlappen eine Alternative zur Regenfall-Dusche? Bei uns tobt eine energiepolitische Debatte, deren Oberflächlichkeit darüber hinweg täuscht, dass mit solchen Maßnahmen die Verringerung des Gasverbrauchs um 15 oder 20 Prozent unerreichbar bleibt. Das geht nur mit verbindlichen Effizienz- und Einsparvorgaben für öffentliche Gebäude und Industrie. Auch hohe Preise treiben die Effizienz mehr als moralische Appelle.

So lernt das Land gerade auf die harte Tour, dass der Wettbewerbsvorteil, den sich Deutschland durch den Zugang zu billigem russischem Gas verschaffen konnte, zu großer Abhängigkeit und dem Verlust an Souveränität geführt hat. Der Versuch, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, treibt die Preise für Gas und Strom kurzfristig in ungeahnte Höhen. Gleichzeitig erleben wir das globale Ende der Atomenergie, auch wenn gerne das Gegenteil behauptet wird. Atomkraft ist im Kriegsfall ein gigantisches Risiko, wie gerade im ukrainischen Saporischschja zu besichtigen ist.

Das AKW im Emsland soll zum Jahreswechsel vom Netz. Oder doch nicht?
Das AKW im Emsland soll zum Jahreswechsel vom Netz. Oder doch nicht?

© Foto: dpa/Friso Gentsch

Außerdem gefährdet Atomenergie die Versorgungssicherheit. Die Abhängigkeit von dieser Energie hat Frankreich in eine Krise gestürzt. Altanlagen stehen wegen Leitungsrissen still, andere Meiler wurden abgeschaltet, weil sie aufgrund der Klimaerhitzung nicht mehr ausreichend gekühlt werden können. Rund die Hälfte der französischen AKWs ist derzeit abgeschaltet.

Frankreich muss massiv Strom importieren – zeitweilig war dort der Preis für eine Megawattstunde doppelt so hoch wie Deutschland. Atomkraft ist ein ökonomisches Desaster. Gerade musste der mit 92 Milliarden Euro überschuldete Konzern Électricité de France komplett verstaatlicht werden. Das Versagen der Atomkraft in Frankreich droht Europas Netzstabilität zu gefährden.

Ist Deutschland für Versorgungssicherheit auf Atomkraft angewiesen? Natürlich nicht

Selbst einige Kraftwerksbetreiber scheuen den weiteren Betrieb von AKWs – dennoch streitet Deutschland neben Waschlappen und Regenfall-Duschen über eine Laufzeitverlängerung seiner drei letzten Atomkraftwerke. Ausgerechnet das Land, das heute doppelt so viel Strom erneuerbar erzeugt, wie die Atomkraft in ihrer besten Zeit liefern konnte, soll für die Versorgungssicherheit auf Atomkraft angewiesen sein? Das ist es natürlich nicht.

Für Heizung und Duschwasser liegt das Substitutionspotenzial durch Atomstrom unter einem Prozent. Außerdem kann man dem angeblich drohenden Spannungsabfall im Stromversorgungssystem mit intelligentem Lastmanagement entgegenwirken. Deshalb soll die Genehmigung zum Leistungsbetrieb der letzten deutschen Atomkraftwerke zu Silvester enden. Ob zwei davon noch bis Ende März als Reserve gehalten werden, wird mit Blick auf die Netzstabilität vom Bundestag entschieden.

Mit der Klimakrise und Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine hat sich die Auseinandersetzung über die Investitionsströme in der Energieproduktion verschärft. Wir erleben gerade einen „Big Battle“ zwischen den alten fossil-nuklearen Strukturen und den erneuerbaren Energien.

In dieser Schlacht zielt die Strategie der EU und Deutschlands neben der Diversifizierung fossiler Energiequellen vor allem darauf ab, diese Quellen durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Dekarbonisierung holt die Energieproduktion nach Hause zurück – ohne die Diversifizierung aus den Augen zu verlieren. Deutschland und seine Energiewende stehen hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Weniger Energieimporte machen strategisch souveräner

Heute importieren wir 70 Prozent unserer Primärenergie. Der konsequente Ausbau erneuerbarer Energien und ein Hochfahren der Wasserstoffwirtschaft würden es ermöglichen, selbst bei steigendem Strombedarf 70 Prozent der Primärenergie hier zu produzieren. Die Umkehr des Verhältnisses von Importen und Eigenproduktion bedeutete einen riesigen Gewinn an strategischer Souveränität. Denn dann verlören jene Staaten an Macht und Einfluss, deren Geschäftsmodell auf dem Export fossiler Rohstoffe beruht.

Diese Staaten wünschen sich Diversifizierung statt Dekarbonisierung, hier liegt der Grund für das Scheitern des von Deutschland angestrebten Gasdeals mit Katar. Katar verlangt zur Erschließung neuer Felder Verträge mit Laufzeiten, die mit der angestrebten Dekarbonisierung in Europa unvereinbar sind.

So bitter es ist, dass Deutschland unter dem Druck des Ukraine-Kriegs Kohlekraftwerke wieder aus der Reserve nehmen muss, es hält am Kurs der Dekarbonisierung fest. Es war Deutschland, das mit dem Ausstieg aus der Atomenergie und dem Einstieg in die Erneuerbaren letztere global so wettbewerbsfähig gemacht hat, dass inzwischen weltweit mehr erneuerbare als fossile Kapazitäten ans Netz gehen. Überdies wäre der Strom aus künftigen AKWs drei- bis viermal so teuer wie Strom aus erneuerbaren Energien – und das bei AKW-Bauzeiten von gut zwei Jahrzehnten.

Deshalb dürfte die Ankündigung von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, neue Atomkraftwerke bauen zu wollen, ebenso wie der Beschluss der japanischen Regierung, zur Atomkraft zurückzukehren, nicht zu einer nennenswerten Zahl neuer AKWs führen. Schon im vergangenen Jahr wurde weltweit die größte Zahl von AKW seit der Kernschmelze in Fukushima 2011 abgeschaltet.

Deutschlands Abkommen zur Produktion grünen Wasserstoffs mit Kanada dagegen ist einerseits ein Beispiel dafür, wie man über den Energiesektor strategische Souveränität zurückgewinnen kann: Wasserstoff, von Windfarmen in Neufundland produziert, wird verschifft und dann von der deutschen Industrie genutzt. Andererseits aber führt dieses Beispiel auch in die Irre.

Der GAU von Fukushima 2011 war ein Wendepunkt.
Der GAU von Fukushima 2011 war ein Wendepunkt.

© kyodo/dpa

Denn der Richtungswechsel von fossiler Energie hin zu erneuerbarem Strom und grünem Wasserstoff ist mehr als der bloße Ersatz eines Brennstoffs durch einen anderen. Er wird vielmehr mit globalen Strukturveränderungen und Machtverschiebungen einhergehen. In diesem Kontext gerät das extrem exportorientierte Wirtschaftsmodell Deutschlands – wir kaufen billig fossile Energien und nutzen sie für die industrielle Produktion teurer Güter, um diese dann auszuführen – zunehmend unter Druck.

Man fragt sich, warum dort, wo im globalen Süden grüner Wasserstoff produziert wird, nicht auch eine Grundstoffchemie-Industrie entstehen soll, die grünem Ammoniak und Dünger liefert? Deshalb ist eine Politik, die bloß auf Ersatz fossilen Gases durch Wasserstoff setzt, zum Scheitern verurteilt. Bei der Dekarbonisierung geht es auch darum, Wirtschaft zu relokalisieren.

Deshalb muss der Ausbau erneuerbarer Energien in Deutschland massiv und schnell vorangetrieben werden. Er kann nicht in erster Linie in Kanada oder Marokko stattfinden, der Ausbau muss ebenso in Nord- und Ostsee erfolgen, in Ober-, Unter- und Mittelfranken.

Nur dann werden wir Wertschöpfung in Deutschland sichern können. Nur dann kann der derzeit besonders schmerzhaft erfahrene Verlust an Energie-Souveränität nachhaltig überwunden werden. Nur dann kann der Big Battle von Alt gegen Neu gewonnen werden.

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