
© dpa/Bernd von Jutrczenka/Archiv
Zehn Jahre „Wir schaffen das“: Wir brauchen diesen Satz viel häufiger
Der Chefredakteur des Tagesspiegels findet: Der Satz der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst ist nicht das Problem, sondern vielmehr die Umsetzung. Aber noch sei es nicht zu spät.

Stand:
An dem Satz „Wir schaffen das“ kann nichts falsch sein. Wie verheerend wäre das eigentlich? Denn er steht für Zuversicht, Optimismus, für Handlungsfähigkeit und die Bereitschaft, etwas zu tun. Viel häufiger würde man sich diesen Satz heute von Menschen wünschen, die in politischer Verantwortung stehen.
Wirtschaftskrise? „Wir schaffen das!“ Demokratiekrise? „Wir schaffen das!“ Technologisch-Gesellschaftlicher Wandel? „Wir schaffen das!“ Denn dieses Land und diese Gesellschaft haben alle Voraussetzungen dafür, diese Herausforderungen zu schaffen. Menschen, die hier mit viel Engagement für all diese Themen jeden Tag einstehen und kämpfen. Was wäre es für ein Signal, diesem Land, dieser Gesellschaft, uns allen hier nichts zuzutrauen?
Mit Scheuklappen geht es nicht
Schwieriger ist die Ausgestaltung, das Vertrauen in diesen Satz, schlicht die Umsetzung. Denn wer etwas schaffen will und davon überzeugt ist, das auch hinzubekommen, muss nicht nur mit aller Kraft dafür kämpfen, sondern auch viele Aspekte berücksichtigen. Er muss offen für die Probleme sein und darf keine Scheuklappen haben.
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Und damit sind wir bei Angela Merkel. Ihr vorzuwerfen, dass sie für das Gelingen dieses Satzes, den sie auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung am 31. August 2015 auf einer Pressekonferenz gesagt hat, nicht gekämpft habe, wäre völlig falsch und despektierlich. Sie hat enorm viel Zeit und Kraft ihrer Kanzlerschaft damals auf dieses Thema verwendet. Aber sie hat Fehler gemacht.
Als sie diesen Satz gesagt hat, war absehbar, dass im Laufe des Jahres 2015 rund 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden. In den Stunden, als sie die Deutschen mit diesem Satz auch versucht hat, darauf einzuschwören, harrten tausende syrische Flüchtlinge in Budapest am Bahnhof aus. Sie konnte aus purer Menschlichkeit und zumal mit ihrer eigenen ostdeutschen Biografie gar nicht anders, als die Menschen nach Deutschland durchzulassen.
Merkel hat zu wenig gestaltet
Aber ein Grundfehler war, dass sie, die Physikerin, Politik, wie häufig zuvor, eher als Naturgesetz gesehen hat. Dort passieren Dinge immer gleich und mehr oder weniger automatisch. Natürlich verändern sich Naturgesetze, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Nur hat sie dafür zu wenig getan. Ihr Fokus war darauf gerichtet, administrativ die große Zahl an Flüchtlingen zu bewerkstelligen, sodass sie untergebracht sind, versorgt sind, Essen haben. Wichtige Akutmaßnahmen, auf jeden Fall.
Aber die Menschen mussten nicht nur physisch untergebracht werden und ein Dach über dem Kopf haben, sie mussten auch in dieser Gesellschaft ankommen. Die Bereitschaft dazu war bei vielen Menschen hierzulande damals da. Aber Sorgen und Ängste, sogar Warnungen aus der Wissenschaft wurden nicht gehört. Merkel aber hätte erkennen müssen, antizipieren müssen, dass es Probleme geben würde. Auch das ist politische Gestaltung, die aber ausblieb.
So groß die Willkommenskultur auch war, Deutschland war zu damaligen Zeit kein klassisches Einwanderungsland. Im Gegenteil. Vorbehalte, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus waren Themen, die nie aus dieser Gesellschaft verschwunden waren, auch wenn sie damals noch sehr von den offenen Armen der Gesellschaft verdeckt wurden. Viel zu wenig hat Merkel erklärt, kommuniziert, frühzeitig Warnsignale erkannt – auch für ganz praktische Probleme.
Und haben wir es denn nun eigentlich geschafft? Sicher noch nicht. Viele Flüchtlinge, auch von damals, sind längst noch nicht integriert. Ihnen fehlt der Zugang zum Arbeitsmarkt und stattdessen ist ihr Anteil in den Sozialsystemen stark angestiegen. Dabei sind Arbeit und Bildung Schlüssel zur Integration. Ungelöst und sicher auch nicht ausreichend debattiert sind kulturell-politische Unterschiede, gerade, wenn es um das Thema Antisemitismus geht.
Haben wir es deshalb nicht geschafft? Nein! Wir sind nur lange noch nicht am Ende des Weges und es kommen neue Herausforderungen, neue Flüchtlingsströme und eben ein neues gesellschaftliches Klima hinzu. Aber dennoch: Es ist für uns alle zu schaffen. Immer noch.
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