
© REUTERS/ANNEGRET HILSE
„Die soziale Handschrift fehlt komplett“: Grüne rechnen mit Kanzler Merz ab
Der Bundeskanzler versprach bis zum Sommer einen Stimmungsumschwung und wollte dafür keine 100 Tage Schonfrist. Die Grünen-Vorsitzenden ziehen nun eine kritische Zwischenbilanz.
Stand:
Nach 67 Tagen Arbeit gibt es jetzt erst einmal 58 Tage Pause. Der Politikbetrieb in der Hauptstadt geht mit diesem Wochenende in die parlamentarischen Sommerferien. Sollten die gescheiterten Richterwahlen nicht noch bei einer Sondersitzung nachgeholt werden, sehen sich die Abgeordneten erst in der zweiten Septemberwoche wieder.
Dass die Zeit für seine Ziele dränge, hatte Friedrich Merz schon vor seiner Wahl zum Kanzler deutlich gemacht: „Wichtig ist, dass wir bis zum Sommer die Stimmung im Land verbessern“, sagte der CDU-Vorsitzende im April. Nach seiner Wahl wurde im schwarz-roten Kabinett dann ein 70- statt eines 100-Tage-Programms erarbeitet.
Wir werden uns keine 100 Tage Zeit lassen, sondern unsere Zielvorgabe sind die ersten 70 Tage.
Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) machte Anfang Mai Tempo.
„Wir werden uns keine 100 Tage Zeit lassen, sondern unsere Zielvorgabe sind die ersten 70 Tage“, erklärte Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU). Mit diesem Wochenende läuft diese Frist nun ab, und in der Opposition hat man sich an Merz’ Ankündigung erinnert. Die Grünen haben deshalb Zwischenbilanz für Schwarz-Rot gezogen.
„Nach 70 Tagen Regierung Merz ist klar: Die soziale Handschrift fehlt komplett“, sagte Grünen-Chef Felix Banaszak dem Tagesspiegel. Er erinnerte daran, dass die Stromsteuer nicht für Privathaushalte gesenkt wird und auch der Mindestlohn nicht so deutlich steigen soll wie angekündigt.
Grüne attestieren Schwarz-Rot „soziale Kälte“ und „fossile Nostalgie“
Auch auf anderen Politikfeldern sieht Banaszak die Regierung auf keinem guten Weg: „In der Gesellschaftspolitik gibt es keine Fortschritte – dafür einen eiskalten Kulturkampf“, sagte der Grünen-Vorsitzende. Wer Einbürgerung erschwere, den Familiennachzug aussetze und die Regenbogenflagge „zur Lachnummer“ mache, „führt unser Land nicht zusammen, sondern spaltet“, so Banaszak.
Schwarz-Rot stehe für Stillstand und soziale Kälte. „Das Einzige, worauf sich Friedrich Merz und Lars Klingbeil verständigen können, ist der Wortbruch“, sagte Banaszak.
Auch seine Co-Vorsitzende bei den Grünen, Franziska Brantner, attestiert der neuen Regierung bereits Versagen: „70 Tage Merz-Regierung – und die Wirtschaft wartet weiter auf ein echtes Aufbruchsignal“, sagte Brantner dem Tagesspiegel. Investitionen in Infrastruktur würden im Koalitionschaos versanden, und beim Kampf gegen die mächtigen Tech-Monopole verzanke sich das Kabinett. „So entsteht kein Fundament für Wettbewerb und Innovation.“
Statt die Wirtschaft ins 21. Jahrhundert zu führen, wird der Kurs der fossilen Vergangenheit zementiert.
Grünen-Chefin Franziska Brantner kritisiert den Kurs von Schwarz-Rot.
Brantner, die in der Ampel unter Robert Habeck im Wirtschaftsministerium gearbeitet hatte, kritisierte den neuen Kurs im Wirtschaftsministerium: „Statt die Wirtschaft ins 21. Jahrhundert zu führen, wird der Kurs der fossilen Vergangenheit zementiert. Gasbohrungen, Agrardiesel, milliardenschwere Subventionen für fossile Energien – all das bezahlt die nächste Generation doppelt.“
Selbst auf dem Feld der Außenpolitik, auf dem Merz viele Akzente gesetzt hat und von Kiew bis Washington viel unterwegs war, sieht Brantner die falschen Signale, vor allem wegen der strikten Grenzkontrollen. „Was von Merz als europapolitischem Führungsanspruch übrig bleibt, ist ein Rückfall ins nationale Klein-Klein“, sagte die Grünen-Vorsitzende.
Der Kanzler hatte in der Generaldebatte im Bundestag am Mittwoch seine ersten Wochen im Amt deutlich positiver bilanziert. „Wir haben viel angepackt, wir haben einiges erreicht, aber es bleibt noch sehr viel zu tun“, sagte Merz dort. Aktuelle Umfragen würden zeigen, dass die Stimmung in deutschen Unternehmen stetig besser werde.
Gleichzeitig versprach Merz „eine große Reform des Sozialstaats“. Konkret wolle man das Bürgergeld neu gestalten und an einer Reform der Rente und der Sozialsysteme arbeiten. Im Herbst würden dazu im Kabinett Entscheidungen getroffen, versprach Merz. Es dürfte der nächste Countdown für den Kanzler werden.
- Ampelkoalition
- Bürgergeld
- CDU
- Deutscher Bundestag
- Die Grünen
- Friedrich Merz
- Lars Klingbeil
- Mindestlohn
- Rente
- Robert Habeck
- Thorsten Frei
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- false