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Gestaltung: Tagesspiegel /K. Schuber, Foto: Corbis via Getty Images

© Gestaltung: Tagesspiegel /K. Schuber, Foto: Corbis via Getty Images

Alles nur schöner Schein? : Ursula von der Leyen und die fünf Großbaustellen der EU

Ursula von der Leyen ist seit gut zwei Jahren EU-Kommissionschefin: Eine Zeit großer Ankündigungen, kleiner Fortschritte – und Fehler.

Ist dies der Skandal, der Ursula von der Leyens Bilanz nach zwei Jahren an der Spitze der EU-Kommission verdirbt? Im Juni ist sie die 47 Kilometer von Wien nach Bratislava im Privatjet geflogen. Wie passt das zu den Klimazielen und zur Aufforderung an Bürger, Kurzstreckenflüge zu unterlassen? Da drängt sich das böse Bild von Spitzenpolitikern auf, die Wasser predigen, aber Wein trinken.

Der Vorwurf basiert jedoch auf einer Verkürzung. Dies war kein Einzeltrip, sondern die Teilstrecke einer Rundreise. In mehreren Hauptstädten wollte sie die Verwendung der EU-Gelder aus dem Aufbaufonds nach der Corona-Pandemie besprechen. Abends ging es weiter nach Riga. Wäre es besser gewesen, das Flugzeug in Wien zurückzulassen? Optisch ja. Mit Blick auf den engen Terminkalender nein. Dann hätte sie von Bratislava nach Wien zurückkehren müssen, statt direkt nach Lettland weiterzufliegen.

Äußerer Anschein, Realität und politische Substanz stehen im Alltag der Spitzenpolitiker häufig in einem Spannungsverhältnis. Von der Leyen weiß das. Sie versucht selbst oft mit „Bella Figura“-Auftritten die Öffentlichkeit zu beeindrucken und die Kritik an inhaltlicher Leere zu überdecken.

Als Verteidigungsministerin wollte sie den Soldatenberuf ziviler erscheinen lassen, stattete Kasernenstuben mit Einzelkühlschränken aus, propagierte den Acht-Stunden-Tag mit Kinderbetreuung – zum Ärger vieler Militärs, die eine bessere Ausrüstung für Einsätze für weit dringender hielten. Die Erinnerung an ihre Amtszeit dominiert ein ganz anderes Stichwort: die Berateraffäre.

Wiederholt sich nun ähnliches im Amt der Kommissionspräsidentin? Wegen des komplizierten Beziehungsgeflecht zwischen Parlament, Kommission und dem Rat der Regierungschefs ist es für viele Bürger noch schwieriger, zwischen Äußerlichkeiten und politischer Relevanz auf EU-Ebene zu unterscheiden. Was ist von der Leyens Bilanz nach zwei Jahren?

Wie will die EU den Konflikt mit Polen und Ungarn um den Rechtsstaat lösen?

Der Streit um die Unabhängigkeit des Justizwesens in Polen eskaliert und droht die Handlungsfähigkeit der EU zu blockieren.

Das Verfassungstribunal in Warschau stellt den Vorrang des europäischen Rechts vor Polens Verfassung bei Grundwerten in Frage. Das Parlament verklagt die Kommission; sie solle die neue Rechtsstaatklausel sofort nutzen und EU-Gelder an Rechtsstaat-Sünder nicht mehr auszahlen, um sie zum Einlenken zu zwingen. Von der Leyen wirkt orientierungslos. Um dem Parlament zu gefallen, behauptet sie, überall in Europa müsse das gleiche Recht gelten.

So generell ist das falsch. Die EU-Staaten dürfen sich im Familienrecht, im Strafrecht und in vielen weiteren Bereichen unterscheiden. Einheitlich muss es nur in den vergemeinschafteten Feldern zugehen, voran Binnenmarkt, Wettbewerb und Grundrechte. Von der Leyen redet zugleich dem Rat der Regierungschefs nach dem Mund. Die Konflikte mit Polen und Ungarn müssten im Dialog gelöst werden.

Der langjährige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle mahnte in einem bemerkenswerten Vortrag über die Krise der europäischen Rechtsgemeinschaft an der Leopoldina in Halle am Mittwochabend, Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnten den Streit nicht entscheiden.

Das gehe nur in einem Zusammenspiel aus politischem und juristischem Druck. Und im Weg eines Kompromisses. Wer das letzte Wort habe, der EuGH oder die nationalen Verfassungsgerichte, sei vielerorts in der EU umstritten. Er rate, „die Schwebelage zu akzeptieren“.

Wie setzt die EU ihre Klimaziele durch?

In der Klimapolitik ist von der Leyens Kurs klarer. Die EU will Antreiber und Vorbild sein. Sie hat die Ziele verschärft: Senkung der Emissionen bis 2030 um 55 Prozent im Vergleich mit 1990, Klimaneutralität 2050. Nach innen und außen macht die Kommission konkrete Vorgaben und unterstützt den Umbau der Wirtschaft mit Milliardensummen.

Ursula Leyen hat viele Baustellen in der EU. Zu viele? Manchmal scheint es so.
Ursula Leyen hat viele Baustellen in der EU. Zu viele? Manchmal scheint es so.

© Imago Images

Kernkraft soll generell als nachhaltig eingestuft werden; Gas vorübergehend, weil es als Brücke ins Zeitalter der Erneuerbaren gebraucht wird. Massenproteste gegen steil steigende Energiepreise im Stile der „Gelbwesten“ will die EU durch Sozialprogramme verhindern.

Im Alleingang kann die EU das Klima nicht retten. Alle großen Staaten müssen mittun. China, Russland und andere entziehen sich jedoch dem politischen Druck bei der Klimakonferenz in Glasgow. Die EU plant eine CO-2-Steuer auf Importwaren, die mit höherer Klimabelastung als in der EU zulässig produziert werden, um den Kostenvorteil der Klimasünder, voran China, auszugleichen und Klimaschutz auch ökonomisch attraktiver zu machen.

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Führt Corona zu einer Gesundheits-Union?

Nein. Die Gesundheitspolitik bleibt national. Sie wird nicht vergemeinschaftet. Die Pandemie hat aber gezeigt, dass verstärkte Kooperation helfen kann. Patienten aus regionalen Hotspots wurden in weniger ausgelastete Krankenhäuser in Nachbarländern gebracht. Die EU kaufte Impfstoffe für alle Mitgliedstaaten.

Zunächst verzögerte sich dadurch das Impftempo. Die USA und Großbritannien waren anfangs schneller. Inzwischen hat die EU das aufgeholt. Gemeinsame Pandemiepolitik hat sich bewährt.

Was lernt die EU aus der Migrationskrise?

Seit 2015, als rund eine Million Menschen unkontrolliert in die EU kamen, ist die gemeinsame Migrations- und Asylpolitik kaum vorangekommen. Ebenso wenig die gemeinsame Verantwortung für den Schutz der Außengrenze. Anders als in der Gesundheitspolitik fehlt nicht nur die Bereitschaft, die Kompetenz an die EU zu übertragen.

Es ist auch kein Wille erkennbar, sich mit EU-Partnern zu koordinieren und Migranten in der EU zu verteilen. Im französischen Präsidentschaftswahlkampf betonen bürgerliche Kandidaten die nationale Zuständigkeit.

Die Meinungsverschiedenheiten, ob die EU mehr Humanität oder mehr Härte bei der Grenzsicherung brauche, scheinen unüberwindbar. Polen will zeigen, dass es die Grenze zu Belarus mit Militär und Stacheldraht gegen Migranten sichern kann, die Diktator Lukaschenko einfliegen und an die Grenze bringen lässt.

Auch hier setzt von der Leyen auf „Bella figura“. Die EU werde keine neuen Mauern finanzieren, entgegnet sie zwölf Staaten, die EU-Mittel für die Sicherung der Außengrenze fordern. Der Trend in vielen Mitgliedsstaaten weist in die Gegenrichtung.

Wie endet der Streit um Nord Stream 2?

Da wartet ein heikler Test auf von der Leyen. Die Gas-Pipeline Nord Stream 2, die russisches Gas unter Umgehung der Ukraine und Polens nach Deutschland bringen soll, ist fertig gebaut und benötigt nun die Betriebsgenehmigung. Die EU-Gasrichtlinie schreibt vor, dass ein Konzern – hier: Gazprom – nicht zugleich Lieferant des Gases und Betreiber der Pipeline sein darf.

Russland setzt offenbar darauf, dass Deutschland die Betriebsgenehmigung erteilt, auch wenn Gazprom die Auflage nicht erfüllt. Wird die Kommissionspräsidentin dann gerichtlich gegen die Inbetriebnahme vorgehen?

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