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Zwei Frauen zünden eine Kerze auf dem Marktplatz zum Gedenken an die Opfer an.

© Swen Pförtner/dpa

Ein schwarzer Tag: Attacke auf jüdisches Leben in Halle

Ein mutmaßlicher Rechtsextremist greift eine Synagoge in Halle an und tötet zwei Menschen. Was über Tat und Täter bekannt ist.

Hubschrauber kreisen über der Stadt, schwer bewaffnete Polizisten sind im Einsatz, die Anwohner werden aufgefordert, in den Häusern zu bleiben: Die Stadt Halle (Saale) ist am Mittwoch im Ausnahmezustand. Zwei Menschen wurden durch Schüsse getötet, weitere schwer verletzt. Der Tatort: direkt an einer Synagoge.

Was ist über Tat und Täter bekannt?

Zunächst ging die Polizei von mehreren Tätern aus, mittlerweile sind Sicherheitskreise aber von einem Einzeltäter überzeugt. Dieser soll Stephan B. sein, ein 27-jähriger Deutscher aus Sachsen-Anhalt – zuvor weder der Polizei noch dem Verfassungsschutz bekannt. Ermittler glauben, dass er seine Tat zuvor lange geplant hat.

Über eine an seinem Helm befestigte Handykamera filmte er sein Vorgehen und streamte es über die Computerspieler-Plattform Twitch live ins Internet. Sein Vorbild könnte der australische Rechtsextremist Brenton Tarrant gewesen sein, der im März in Neuseeland 51 Menschen in zwei Moscheen erschossen hatte. Auch er streamte große Teile seiner Tat per Helmkamera live ins Internet.

Forensiker arbeiteten bis in die Nacht am Tatort in Halle.
Forensiker arbeiteten bis in die Nacht am Tatort in Halle.

© AXEL SCHMIDT/AFP

In Halle versuchte der mutmaßliche Täter während der Mittagszeit in eine Synagoge im Paulusviertel vorzudringen, wie Max Privorotzki, der Vorsitzende der dortigen Jüdischen Gemeinde, der „Stuttgarter Zeitung“ sagte. „Wir haben über die Kamera unserer Synagoge gesehen, dass ein schwer bewaffneter Täter mit Stahlhelm und Gewehr versucht hat, unsere Türen aufzuschießen.“ Außerdem habe der Mann versucht, das Tor des angrenzenden jüdischen Friedhofs zu öffnen, so Privorozki.

Wegen des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur hätten sich 70 bis 80 Menschen in der Synagoge aufgehalten. Dem Täter gelang es aber nicht, in das Gotteshaus vorzudringen. Die jüdische Gemeinde ist damit womöglich knapp einer Katastrophe entgangen. B. wollte offenbar ein Massaker anrichten.

Doch dem 27-Jährigen fielen andere Menschen zum Opfer. Das im Internet verbreitete Video seines Handys zeigt, was geschah, als er mit seinen Sprengsätzen die Tür der Synagoge nicht aufbekommt: Eine Passantin geht vorbei und beschwert sich über ihn. Sie läuft weiter, B. folgt ihr mit wenigen Schritten und schießt ihr mehrmals in den Rücken.

Ein Polizist mit Schutzhelmen steht zwischen Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof in Halle.
Ein Polizist mit Schutzhelmen steht zwischen Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof in Halle.

© Sebastian Willnow//dpa

Auch weitere Versuche, die Tür zur Synagoge zu öffnen bleiben erfolglos. Er steigt wieder in sein Auto uns gibt antisemitische Beschimpfungen von sich. Ein paar Straßen weiter geht er in einen Dönerladen, auf dem Video ist zu sehen, wie er dann in dem Imbiss einen Mann erschießt - sein zweites Opfer. Auch auf weitere Passanten macht Stephan B. Jagd.

Nach der Tat kann er fliehen. Dabei liefert er sich einen Schusswechsel mit der Polizei. Am frühen Nachmittag vermeldet diese über Twitter die Festnahme einer Person. Sie ruft die Bevölkerung trotzdem auf, in ihren Wohnungen oder an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben. Auch das mobile Warn- und Informationssystem „Katwarn“ gibt eine „Gefahrendurchsage“ an die Bevölkerung heraus: „Gebäude und Wohnungen nicht verlassen. Von Fenstern und Türen fern bleiben!“ Die Polizei glaubt zunächst, mehrere bewaffnete Täter seien mit einem Auto auf der Flucht. Auch in Landsberg – rund 15 Kilometer von Halle entfernt – wird geschossen. Später kommt heraus, dass B. auf der Flucht ein Taxi kaperte, damit verunglückte und festgenommen werden konnte. Das zeichnete seine Kamera aber nicht mehr auf – er warf sein Handy auf der Flucht aus dem Autofenster.

Was war das Motiv?

In Sicherheitskreisen geht man von einem gezielten Anschlag an Jom Kippur aus. Der höchste jüdische Feiertag wird auf Deutsch oft als Versöhnungsfest bezeichnet. In dem Video schimpft der Attentäter zudem in schlechtem Englisch auf „Juden“ und leugnet den Holocaust. Insofern deutet vieles auf ein rechtsextremes und antisemitisches Motiv hin.

Was berichten Augenzeugen?

Dem Tagesspiegel sagte René Friedrich, der in der Nähe der Synagoge einen Backshop hat, er sei mit dem Auto unterwegs gewesen, als er den Täter und dessen Gewehr gesehen habe. Der Mann habe mindestens zwei Sprengkörper über die Mauer zur Synagoge geworfen. René Friedrich legte den Rückwärtsgang ein und rief die Polizei.

Ein Polizeibeamter vor der Neuen Synagoge Berlin.
Ein Polizeibeamter vor der Neuen Synagoge Berlin.

© Christoph Soeder/dpa

Dem Fernsehsender „ntv“ schilderte ein junger Mann, der sich in dem Dönerladen aufgehalten hatte, seine Eindrücke. Ein Mann mit Sturmgewehr, Maske und Helm habe sich dem Laden genähert und versucht, einen Sprengsatz hineinzuwerfen. Dieser sei am Türrahmen abgeprallt und vor den Füßen einer alten Frau explodiert. Der Täter habe in den Dönerimbiss gefeuert. Er selbst, so berichtete der Zeuge, versteckte sich in der Toilette und schrieb seiner Familie eine Nachricht, dass er sie liebe.

Wie reagiert die Politik?

Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat nach dem Angriff einen eindringlichen Appell an die europäische Öffentlichkeit gerichtet. „Der zunehmende Antisemitismus muss alle Europäerinnen und Europäer zum Handeln aufrufen“, schrieb er am Mittwochabend über den Kurznachrichtendienst Twitter. Er sei „zutiefst schockiert“ über die Nachricht von den mörderischen Anschlägen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach am Abend von einem antisemitischen Motiv. Der Generalbundesanwalt, der die Ermittlungen rasch an sich gezogen hatte, habe zudem „ausreichend Anhaltspunkte für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund“. Seehofer sagte weiter: „Der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur ist heute ein schwarzer Tag. Ein schwer bewaffneter Täter hat versucht, in eine Synagoge einzudringen, in der sich rund 80 Menschen aufhielten.“

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff zeigte sich ebenfalls erschüttert über die tödlichen Schüsse. „Ich bin entsetzt über diese verabscheuenswürdige Tat“. Dadurch seien nicht nur Menschen zu Tode gekommen, die Tat sei „auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land“. Haseloff erreichte die Nachricht von dem Angriff bei einer Konferenz des Ausschusses der Regionen in Brüssel. Er brach den Besuch ab.

Wie bedroht sind jüdische Institutionen?

Da Sicherheitskreise von einem gezielten Anschlag zum jüdischen Feiertag ausgehen, wurden die Sicherheitsvorkehrungen an mehreren jüdischen Institutionen in Deutschland sofort nach dem Angriff erhöht. Vor der Leipziger und der Dresdner Synagoge war die Polizei mit deutlich mehr Beamten im Einsatz. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten sicherten die Gebäude. In Berlin, wo sich bundesweit die meisten jüdischen Einrichtungen befinden, wurden die Sicherheitsvorkehrungen ebenfalls verschärft. Laut einer Polizeisprecherin wurde vor Synagogen sowie jüdischen Schulen und Friedhöfen der Objektschutz erhöht. Außerdem seien Polizisten mit Maschinenpistolen im Einsatz.

Aus Polizeikreisen hieß es, dass die Beamten bereits in erhöhter Alarmbereitschaft waren, nachdem am Freitag ein Syrer vor der Synagoge in der Oranienburger Straße mit einem Messer herumgefuchtelt hatte. Man habe Nachahmungstaten befürchtet, hieß es.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat nach dem Angriff schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben. „Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös“, teilte Schuster mit. „Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt.“ Nur glückliche Umstände hätten ein Massaker verhindert.

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