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Kanzler Olaf Scholz (SPD).

© REUTERS/LIESA JOHANNSSEN

Update

„Bisher waren sich alle Kanzler einig“: Scholz spricht von historischem Tabubruch – Merz wehrt sich

Der Bundestag hat den Unionsantrag zur Begrenzung der Migration trotz AfD-Stimmen abgelehnt. SPD und Grüne sind zwar erleichtert, erneuern aber ihre Kritik am Vorgehen des CDU-Chefs.

Stand:

SPD, Grüne und Linke sind nach der Ablehnung des sogenannten Zustrombegrenzungsgesetzes im Bundestag beruhigt, erneuern jedoch ihre Vorwürfe an Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz. Der CDU-Chef wiederum kritisiert die beiden Regierungsparteien und die AfD sieht Merz von seinen eigenen Leuten abgesägt.

Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte, dass Merz durch die Abstimmungen zusammen mit der AfD ein historisches Tabu gebrochen habe. „Ein Tabu, dass man mit den extremen Rechten nicht zusammenarbeitet“, sagte Scholz am Freitag in der ARD. Er widersprach Merz, der den Freitag wegen der heftigen Debatte über Migration als guten Tag für den Parlamentarismus bezeichnet hatte. „Also ein wahrscheinlich historischer Tag, aber kein guter“, sagte der SPD-Politiker Scholz dazu.

Scholz warnt vor Beispiel Österreich

„Über die ganze Geschichte der Bundesrepublik waren sich alle Kanzler einig, von Adenauer über Brandt, Schmidt, Kohl, Merkel, dass mit den extremen Rechten keine gemeinsame Sache gemacht wird und noch im November hat Herr Merz gesagt, das würde er niemals tun“, sagte Scholz zudem in einem ZDF-Interview.

Der Kanzler warnte ausdrücklich davor, dass sich eine Entwicklung wie in Österreich in Deutschland wiederholen könnte. „Es ist wichtig, dass es keine schwarz-blaue Mehrheit gibt, sonst kann uns ein österreichisches Erwachen passieren“, warnte der Kanzler.

Wer mit den extremen Rechten gemeinsame Sache macht, der kapituliert vor den Extremisten.

Olaf Scholz, Bundeskanzler

Denn auch in Österreich hätten alle Parteien gesagt, sie wollten nicht mit der FPÖ regieren. Dann habe sich die ÖVP als Unions-Schwesterpartei sogar bereit erklärt, einen FPÖ-Kanzler Kickl mitzuwählen. „Also, das ist eine große Gefahr. Man kann Herrn Merz in diesen Aussagen nicht trauen“, fügte er hinzu. Scholz erneuerte den Vorwurf etlicher SPD- und Grünen-Spitzenpolitiker, dass Merz sich auch mit Stimmen der Rechtspopulisten zum Kanzler wählen lassen würde. Merz hatte dies zurückgewiesen.

Zuvor hatte der Kanzler Merz Kapitulation vor der AfD vorgeworfen. „Wer mit den extremen Rechten gemeinsame Sache macht, der kapituliert vor den Extremisten. Der lässt sich von ihnen den Takt vorgeben, der lässt sich vorführen“, sagte Scholz in einem Video, das auf seinem Abgeordneten-Account auf der Plattform X veröffentlicht wurde. „Das hämische Feixen der AfD-Abgeordneten im Bundestag, ich fand es kaum erträglich.“

Scharfe Kritik an Merz

Die Kritik an Merz hatte zugenommen, nachdem am Mittwoch erstmals ein nicht bindender Antrag der Union zur Verschärfung der Migrationspolitik mithilfe der AfD beschlossen worden war. Am Freitag erlitt Merz dann im Bundestag eine schwere Niederlage: Das von seiner Fraktion zur Abstimmung gestellte Gesetz zur Verschärfung der Migrationspolitik wurde von den Abgeordneten noch vor der geplanten Schlussabstimmung gestoppt und scheiterte damit.

Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck attackierte den CDU-Chef nach der Abstimmung: „Friedrich Merz hat sein Versprechen, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten, gebrochen. Er hat Erpressung als Mittel der Politik eingesetzt“, sagte er der dpa. Damit habe er der AfD den größten Erfolg beschert, nämlich die Spaltung der Demokraten.

Eine dramatische, bittere Woche gehe zu Ende, sagte Habeck. „Wir haben alles versucht, zu einer Lösung unter den Demokraten zu kommen. Aber Merz war im Blindflug unterwegs gen Abgrund. Dank und Respekt gebührt jenen, die verhindert haben, dass erstmals im Deutschen Bundestag ein Gesetz durch eine gemeinsame Mehrheit mit der AfD zustande gekommen wäre. Sie haben sich gegen ihre Fraktionslinien gestellt, das verdient Hochachtung.“

Die Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann trauen Merz nach dessen „Wortbruch“ auch eine Koalition mit der AfD zu. „Wir fragen uns schon, was wir ihm noch glauben können“, sagte Dröge der „Rheinischen Post“. „Wer einmal sein Wort bricht, dem ist nur noch schwer zu glauben, dass er es nicht auch ein zweites Mal tut.“

Grünen-Ko-Fraktionschefin Haßelmann fügte gegenüber der „Rheinischen Post“ hinzu: „Ich sehe die Gefahren, die von der AfD ausgehen, mache mir aber auch um das Verhalten der Union Sorgen.“ Über CDU-Chef Merz sagte die Grünen-Politikerin: „Merz’ Wortbruch sagt viel über seine Verlässlichkeit aus.“

Aus Sicht von Haßelmann hat Merz die Union „in eine Sackgasse geführt“. Dass CDU und CSU in dieser Woche gemeinsam mit der AfD Mehrheiten gebildet hätten, sei „nicht nur eine Zäsur im Bundestag“, sagte sie. Dies habe auch „Auswirkungen auf unser Land“. Immer mehr Menschen würden sich dessen bewusst.

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Zugleich riefen Dröge und Haßelmann Merz zur Rückkehr in die politische Mitte auf. Auch eine Koalition mit der Union schlossen die beiden Politikerinnen hierbei nicht aus. „Demokraten müssen in der Lage sein miteinander zu verhandeln“, mahnte Dröge. Die gemeinsame Abstimmung von CDU und AfD bezeichnete sie als einen „Tabu-Bruch, der nicht hätte passieren dürfen“. „Deshalb sagen wir eindringlich: Herr Merz, kommen Sie zurück in die politische Mitte!“

Merz macht SPD Vorwürfe

Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz äußerte sich indes skeptisch zur Mehrheitsfähigkeit etablierter Parteien. „In modernen Gesellschaften wird es immer Konflikte geben“, sagte der CDU-Chef dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Die Frage ist: Reicht es aus, was die etablierten Parteien leisten, um eine dauerhafte Mehrheit in der Bevölkerung zu gewinnen?“ Diese Frage sei „noch nicht abschließend beantwortet“.

Merz beklagte in diesem Zusammenhang eine schlechte Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition. Nach seiner Einschätzung gab es in der zu Ende gehenden Wahlperiode des Bundestages „keine gute Kooperation“. „Wir müssen in der politischen Mitte zu Regierungsbildungen kommen, die in diesem Lande wirklich die notwendigen Veränderungen auslösen“, forderte Merz daher. Die Opposition könne die AfD „nicht halbieren, wenn die Regierung diese Partei verdoppelt“.

Auf die Kritik von Altkanzlerin Angela Merkel an seinem Vorgehen in der Migrationsfrage reagierte Merz indes gelassen. „Angela Merkel drückt ein Unbehagen aus, das von vielen - auch von mir - geteilt wird“, sagte der Unionskanzlerkandidat dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). CSU-Chef Markus Söder äußerte sich deutlicher: „Angela Merkel hat sich als Person geäußert. Für die CSU spricht sie nicht“, sagte er dem „Handelsblatt“.

Die Altkanzlerin hatte am Donnerstag in einem ungewöhnlichen Schritt das Vorgehen der Union kritisiert, Stimmen der AfD bei der Verschärfung der Migrationspolitik in Kauf zu nehmen. In einer schriftlichen Stellungnahme erklärte sie Merz’ Vorgehen für „falsch“. Lob kam von SPD und Grüne.

Merz streitet Merkels Einfluss ab

Merz stritt am Freitag im ZDF ab, dass Merkels Kritik einen Einfluss auf das Verhalten seiner Abgeordneten hatte. Bei der Abstimmung im Bundestag über das „Zustrombegrenzungsgesetz“ gab es zwölf nicht abgegebene Stimmen aus der Unionsfraktion. Merz sagte im ZDF, es habe einen Krankheitsfall gegeben, und eine Abgeordnete, die nicht reisefähig gewesen sei. „Ganze zehn“ Abgeordnete von 196 hätten sich in der Sache anders entschieden. Vor ihnen habe er großen Respekt.

Am Donnerstag hatte Merz bei einem Wahlkampfauftritt gesagt, dass die AfD seit 2017 im Bundestag sitze, habe etwas mit der Politik der vergangenen Jahre zu tun. „Und dafür trägt auch meine Partei eine gehörige Verantwortung“, sagte Merz, ohne Merkels Namen zu nennen. Politik müsse so weit korrigiert werden, dass die AfD in Deutschland nicht mehr gebraucht werde.

Schon nach der Abstimmung hatte Merz deshalb auch die SPD und die Grünen scharf kritisiert. „Die Grünen und die Sozialdemokraten standen eindeutig mit dem Rücken zur Wand“, sagte er nach Angaben von Teilnehmern einer dritten Sonderfraktionssitzung seiner Fraktion.

Ich bin mit mir persönlich sehr im Reinen, dass wir es wenigstens versucht haben.

Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz nach der Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz

„Ich bin mit mir persönlich sehr im Reinen, dass wir es wenigstens versucht haben“, sagte Merz vor Journalisten. „Wir gehen aus diesem Tag wirklich gestärkt hervor.“

Der Gesetzentwurf sei gescheitert, weil die SPD das Wahlkampfthema behalten wolle und deshalb zu keinen Kompromissen bereit gewesen sei. „Wir haben unsere eigenen Vorstellungen zur Abstimmung gestellt. Und wir versprechen den Menschen im Lande, dass es in der Mitte des Parlaments eine Kurskorrektur geben wird.“

Das Scheitern sei vor allem auf die schwache Zustimmung bei der FDP zurückzuführen, sagte der CDU-Chef. Bei der FDP hatten nur 67 Angeordnete zugestimmt, zwei enthielten sich, fünf stimmten mit Nein und 16 nahmen nicht an der Abstimmung teil.

Trotz der zum Teil giftigen Atmosphäre in der Bundestagsdebatte sieht Merz keine bleibenden Schäden. „Ich bin mir ganz sicher, dass wir nach der Bundestagswahl mit den demokratischen Parteien der politischen Mitte in diesem Land, in diesem Hause hier vernünftige Gespräche führen können.“

FDP-Fraktionschef kontert Merz-Kritik

FDP-Fraktionschef Christian Dürr wies Kritik am Abstimmungsverhalten der FDP zurück. Dürr sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Die CDU/CSU-Fraktion hat ihren Gesetzentwurf heute zur Abstimmung gestellt und bei der CDU/CSU-Fraktion lag die Verantwortung für die nötige Mehrheit.

Die Union hatte mehr Abweichler als am Mittwoch – und das bei ihrem eigenen Gesetz. Das spricht nach den Einlassungen von Altkanzlerin (Angela) Merkel Bände. Die FDP hat heute alles versucht, damit es eine Mehrheit in der Mitte gibt.“

AfD-Chefin sieht in Merz „kein Kanzler“

Die AfD versucht, die Niederlage der Union im Bundestag für sich zu nutzen. Die Parteivorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla gaben direkt nach der Abstimmung im Bundestag ein Statement. Sie sprachen von Chaos im Parlament und fragten rhetorisch, wer eigentlich gerade CDU-Vorsitzender sei – Merz oder Merkel.

„Das, was wir hier sehen, sind Brandmauer-Tote“, rief Weidel. Merz habe seinen Laden nicht im Griff. Merz „kann kein Kanzler“. Die Union habe mit ihren Abweichlern in der Abstimmung Merz abgesägt. „Die Union steht nicht geschlossen.“ Man wisse nicht mehr, wofür sie inhaltlich stehe.

„Herr Merz ist sehr ungeschickt. Letztendlich hat er sich selbst zu Fall gebracht“, sagt Weidel. Er sei nicht stringent. Sie spricht vom „puren Chaos der etablierten Parteien“. Wer einen „echten Wandel“ wolle, müsse die AfD wählen. (dpa, Reuters, AFP)

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