zum Hauptinhalt
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU)

© imago images/Jürgen Heinrich

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) im Interview: „Das passt nicht in die Zeit“

Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) über Schwächen des Grundgesetzes, Wissenschaft in Corona-Zeiten und ihre eigene Zukunft

Von

Mit Wissenschaft und Bildungswesen hatte Anja Karliczek wenig zu tun, bis Angela Merkel die gelernte Diplom-Kauffrau aus einer Hoteliersfamilie 2017 in ihr viertes Kabinett holte. Die 50-Jährige war vorher als eine der Parlamentarischen Geschäftsführerinnen für die Abläufe in der Unionsfraktion und im Bundestag mitverantwortlich. Karliczek stammt aus dem nördlichen Münsterland, einer ländlich geprägten Gegend, in der die CDU nach wie vor tief verankert ist. Die Katholikin hat ihren Wahlkreis Steinfurt III denn auch 2013 und 2017 mit deutlich über 40 Prozent der Stimmen direkt erobert. Sie war vorher jahrelang im Stadtrat von Tecklenburg engagiert, zuletzt als Fraktionsvorsitzende. Karliczek ist verheiratet und hat drei Kinder.

In der Pandemie war Wissenschaft so gefragt wie nie, aber auch umstritten wie selten zuvor. Muss die Politik ihre Berater-Strukturen überdenken?
Die Wissenschaft hat die Politik in dieser Pandemie hervorragend beraten. Natürlich an erster Stelle die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Für die Runden mit den Ministerpräsidenten wurden zusätzlich Kapazitäten aus der Virologie, aber auch Kinderärzte oder Soziologen an den Tisch geholt.

Selbst Ministerpräsidenten haben sich aber beschwert, der Bund lasse nur „seine“ Experten vortragen. Wäre nicht ein transparent besetzter Pandemierat nach britischem Vorbild eine bessere Lösung?
Warum es „meine“ und „deine“ Wissenschaftler geben soll, habe ich nie verstanden. Christian Drosten oder auch Sandra Ciesek und Viola Priesemann haben immer unterschiedliche Erkenntnisse zum Verlauf der Pandemie zusammengetragen. Das war dann die Grundlage für die politischen Entscheidungen. Natürlich stand die Politik dabei immer wieder vor dem Problem, dass die Wissenschaftler immer nur den gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse vortragen konnten. Vieles ist erst im Laufe der Monate klarer geworden. Und auf viele Fragen gibt es heute noch keine ausreichenden Antworten, zum Beispiel was die Langzeitfolgen einer Corona-Infektion anbetrifft.

War dann nicht die Skepsis gegen hoch umstrittene Entscheidungen wie die Schulschließung auf schwacher Faktenbasis berechtigt?
Unsicherheit gehört auch zur Wissenschaft. Und Wissenschaft braucht auch Zeit, um zu aussagefähigen Resultaten zu kommen. Einige Kritiker machen es sich sehr einfach, wenn sie heute über Entscheidungen urteilen, die vor einem Jahr in höchster Eile und noch dazu auf einer oft sehr unsicheren wissenschaftlichen Basis getroffen werden mussten. Es waren oft Entscheidungen, die mit Vorsicht getroffen wurden, weil die Risiken, nicht zu handeln, für die Menschen einfach zu groß gewesen wären.  

Die Politik hat sich beraten lassen und dann entschieden. In einem sehr erfolgreichen Land wie Taiwan hat ein Nationales Gesundheitskommando direkt selbst Maßnahmen angeordnet. Ein Vorbild für die nächste Pandemie?
Wir leben in einer Demokratie und einem Bundesstaat. Abgesehen davon, ob es sinnvoll ist, wäre ein solches Modell damit nicht vereinbar. Aber wir sollen schon diskutieren, wie wir in einer solchen Krise eine vielleicht noch bessere Koordinierung hinbekommen. Wobei ja zum Beispiel am Anfang Bund und Länder einen gemeinsamen Weg eingeschlagen hatten. Ich war zum Beispiel der Meinung, dass man Schulen nur in Gebieten mit hoher Inzidenz hätte schließen müssen. Aber die Sorge und Unsicherheit war damals verständlicher Weise so groß, dass sich niemand in der Ministerpräsidentenkonferenz vorwerfen lassen wollte, Kinder einer Gefahr auszusetzen.

In der zweiten Welle wurde die Kompetenz an die Kultusminister delegiert, und ab da machte jeder seins!   
Die Länder wollten diese Frage immer sehr stark selbst entscheiden – auch mit dem Argument, dass sie für Schule zuständig sind. Die Bundesnotbremse, die erstmals auch einen Rahmen für den Schulbetrieb beschrieben hat, ist ja erst Ende April in Kraft getreten. Es gab aber immer Einigkeit über die Grundlinie: Präsenzunterricht, solange wir es verantworten können, aber mit Hygienekonzepten.

Aber war das denn gut, Eltern und Kinder in ständig neue Unsicherheit und neue Vorgaben zu schicken?
Klar, viele Menschen wollten, dass die Politik überall einheitlich vorgeht – auch mit Blick auf den Schulunterricht. Aber es war trotz allem im Kern richtig, dass die Länder am Ende entschieden haben. Je mehr die Politik auf die spezifische Situation in einer Region eingeht, umso besser wird dies vor Ort mitgetragen.

Auch in der großen Corona-Politik war die Kanzlerin nie formal zuständig – trotzdem hat sie die Länderchefs zu sich bestellt und koordiniert. Warum haben Sie das nicht mit den Kultusministern genauso gemacht?
Die Schulpolitik ist alleinige Ländersache. Das unterscheidet das Themengebiet von den anderen. Aber dennoch waren Bund und Länder in der Pandemie in einem so engen Austausch wie nie zu zuvor und haben insbesondere die Digitalisierung des Unterrichts vorangebracht. So sind dann drei zusätzliche Pakete zum Digitalpakt entstanden – nämlich über die Schüler-Endgeräte, die für Lehrkräfte sowie die Unterstützung für die IT-Administratoren.

Mit dem Tempo der Umsetzung waren Sie allerdings selber unzufrieden. Wäre hier nicht mehr zentrale Zuständigkeit richtig nach dem Motto: Wer zahlt, bestimmt?
Natürlich sind die Abstimmungen und die Umsetzung oft mühsam oder zeitaufwendig. Aber in der Bildungspolitik sprechen Bund und Länder jetzt mehr miteinander als vor der Krise.

Präsenzunterricht mit Maske
Präsenzunterricht mit Maske

© Guido Kirchner / dpa

Also würde eine Grundgesetzänderung für die Bildung gar nichts bringen?
Doch, ich möchte gerne eine Grundgesetzänderung anstoßen. Wir sollten die Grundlage schaffen, dass Bund und Länder enger insbesondere beim Zukunftsthema der Digitalisierung der Bildung zusammenarbeiten können. Wir müssen schlicht im Sinne der Schülerinnen und Schüler enger kooperieren können. Ein Beispiel: In allen Bundesländern gibt es Weiterbildungsinstitute für Lehrkräfte. Um die Qualität des digitalen Unterrichts zu verbessern, wollen wir nun mit den Ländern entsprechende Kompetenzzentren errichten. Der Bund würde hier für die Expertise aus der Bildungsforschung sorgen, um die Lehrkräfte auf den neuesten Stand der Unterrichtsmethoden zu bringen. Die Länder müssten für den Transfer in die Praxis sorgen. Solche gemeinsamen Projekte stoßen derzeit an verfassungsrechtliche Grenzen. 

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Aber wenn die Bundesministerin selbst in einer Krisensituation erst alle 16 einzeln ins Boot holen muss, bestimmt dann nicht weiter der Langsamste das Tempo?
Ich will einen anderen Punkt machen: Derzeit kann der Bund im Schulbereich nur Geld geben, um die Bildung weiter zu entwickeln. Dies zeigt sich zum Beispiel am Digitalpakt. Das passt nicht in die Zeit. Gerade die Digitalisierung der Bildung ist das große Thema der nächsten Jahre – und die müssen wir zusammen auch inhaltlich voranbringen, ohne dass der Bund den Ländern irgendetwas vorschreiben können soll.

Was soll die Gemeinsamkeit denn dann bringen?
Über digitale Angebote können die Kinder und Jugendlichen besser gefördert werden. Tatsächlich wurden die Notwendigkeit und die Lust, diese neue Technik auszuprobieren, durch die Pandemie enorm beschleunigt. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass diese Technik auch mit pädagogischem Mehrwert eingesetzt und dass überall an der Qualität des digitalen Unterrichts gearbeitet wird.

Aber besteht nicht im Gegenteil die Gefahr, dass alle aufatmend zum altgewohnten Präsenzunterricht zurückkehren und die neue Technik in der Ecke landet?
Ich glaube, dass das die Schülerinnen und Schüler und deren Eltern nicht akzeptieren würden, aber auch die Lehrkräfte das nicht wollten. Der Unterricht wird anders sein als vor der Pandemie. Einige Schulen waren vor der Pandemie so gut aufgestellt, dass sie fast nahtlos in den Distanzunterricht gehen konnten. Das ist auch eine Lehre aus der Pandemie.

Schüler und Schule haben unter der Pandemie stark gelitten, jetzt sollen sie nach den Ferien loshetzen: Lernstandserhebungen, alten Stoff aufholen, neuen dazulernen und zugleich die Digitalisierung weiter vorantreiben - wird das nicht eine irre Aufholjagd?
Die Lernstandserhebung soll ja kein großer Akt sein. Sie sollte am besten schon vor den Ferien gemacht werden, damit rasch klar ist, wer danach an den Programmen teilnehmen soll.

... die Kritiker mit zwei Milliarden Euro für viel zu knapp ausgestattet halten.
Irgendjemand hat ausgerechnet, dass das ja nur 150 Euro pro Kind seien. Das stimmt natürlich nicht. Es soll ja nicht jedes Kind an diesem Programm teilnehmen. Der Lehrerverband schätzt, dass 20 bis 25 Prozent der Schüler ernsthafte Rückstände haben. Welche Kinder und Jugendlichen das konkret sind, müssen die Lehrkräfte jetzt herausfinden. Oft wissen die Lehrerinnen und Lehrer aber ohnehin, wer in ihrer Klasse jetzt Förderung braucht. Trotzdem ist es gut, wenn sie sich noch einmal etwas systematischer vergewissern. Es gibt ja auch Schüler, die im Distanz- und vor allem durch den Wechselunterricht sogar besser gelernt haben als in der Klasse, weil sie mehr Ruhe hatten oder die Gruppen kleiner waren.

Trotzdem bleibt ein zusätzlicher Aufwand.
Ein kleiner, ja. Aber das Nachholprogramm soll ja nicht von den Lehrkräften durchgeführt werden, sondern insbesondere von zusätzlichen Kräften - pensionierten Pädagogen zum Beispiel oder Lehramtsstudenten.

Wäre es nicht besser gewesen, gleich ein Halbjahr lang das Curriculum auszusetzen, um den Schülern den Aufholstress zu ersparen?
Es gab ja vereinzelt sogar mal die Idee, ein ganzes Schuljahr auszusetzen. Aber daran hinge ein ganzer Rattenschwanz an Folgewirkungen. Was machen wir mit den nächsten Schulanfängern, die ja nicht gut noch ein Jahr in der Kita bleiben können? Nach hinten heraus hätten wir einen ganzen Jahrgang lang keine Abschlüsse. Und sehr viele Schüler haben überhaupt kein Defizit und würden ihrerseits benachteiligt. Nein, wir müssen diesen Nachholprozess im laufenden System organisieren.

Neben den Schülern fühlen sich viele Studierende überfordert. Warum haben Sie sich gegen ein elternunabhängiges Bafög gesperrt?
Bereits im März 2020 haben wir klargestellt, dass Bafög-Geförderte keine Nachteile erleiden sollen, wenn zum Beispiel Lehrangebote oder Prüfungen wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden können. Verdienen die Eltern pandemiebedingt weniger, kann ein Aktualisierungsantrag gestellt werden. Eine Lösung über das Bafög wäre zu kompliziert und langsam gewesen und hätte die Bafög-Ämter überlastet. Deswegen haben wir uns darauf konzentriert, eine Überbrückungshilfe mit zwei Säulen einzuführen: einmal als zeitweise zinsloser KfW-Studienkredit, einmal als nicht rückzahlbarer Zuschuss über die Studierendenwerke. Mein Ziel war es, Studierenden sehr schnell zu helfen, deren Nebenjob in der Pandemie oder deren familiäre Unterstützung coronabedingt weggefallen ist.

Aber Sie sind ja auch grundsätzlich dagegen, einen solchen Notfallmechanismus auf Dauer einzurichten oder das Bafög elternunabhängig zu machen. Kann es sein, dass Sie die schwierige Lage vieler Studierender nicht nachvollziehen können, weil Sie selbst ihr Studium nebenberuflich absolviert haben?
Ich spreche immer wieder mit Studierenden. Ihre Lage ist sehr unterschiedlich. Natürlich drücken auch nicht wenige finanzielle Sorgen. Aber die Überbrückungshilfe haben monatlich nie mehr als zwei, drei - ganz am Anfang auch mal vier Prozent der Studierenden beantragt. Und: Ich bin gegen ein Gießkannenprinzip. Jeder Steuer-Euro kann nur einmal ausgegeben werden. Das Bafög ist vor allem eine Sozialleistung, und Voraussetzung dafür ist in einem Sozialstaat eine Bedürftigkeit. Das wird in der Diskussion oft unterschlagen. Grundsätzlich kann ich mir für künftige Krisen aber sehr wohl einen Notfallmechanismus vorstellen.

Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer
Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer

© Patrick Pleul/dpa

In der Pandemie war angewandte Wissenschaft so wichtig wie nie - siehe Biontech. Ist die staatliche Förderstruktur richtig aufgestellt, um nicht nur im Notfall solche Unternehmen zu unterstützen?
Wir haben Biontech schon bei der Ausgründung aus der Universität unterstützt, damals noch mit dem Schwerpunkt Krebsforschung. Aber es gibt immer noch dieses "Tal des Todes", durch das innovative Neugründungen müssen, sobald sie zum Durchbruch einen Industriepartner brauchen. Für die beschleunigte Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen und Arzneimittel sollte das BMBF eine Agentur aufbauen, um besser gegen neue potenzielle Bedrohungen wie Viren und Bakterien gewappnet zu sein. Ich glaube, dass die Zeit reif ist, eine solche Agentur zu gründen, und wir jetzt auch eine Mehrheit für die nötigen Milliardensummen bekommen könnten.

Eine Pandemie war lange absehbar. Der Klimawandel geschieht berechenbar. Müssen wir erst immer in so etwas reinstolpern?
Wir haben in Demokratien immer damit zu tun, dass meistens erst etwas Einschneidendes passieren muss, bevor sich eine Gesellschaft eines Problems richtig bewusst wird und auch handeln will. Die drei trockenen Sommer und die Bewegung junger Menschen, die auf die Straße gegangen sind, haben mehr zum Umdenken beim Klimaschutz geführt als viele Mahnungen in der Politik in all den Jahren davor. So ehrlich müssen wir sein.

Und jetzt springt die Union im Wahlkampf auf den Zug auf und will's gleich besser wissen als die Grünen, die seit Jahrzehnten an dem Thema arbeiten?
Wenn wir immer nur über das Thema Verzicht reden, wie das die Grünen immer getan haben, kriegen wir den Klimaschutz nicht hin. Wenn unterschwellig die Menschen die Botschaft heraushören: "Wir schaffen das Fliegen ab, wir schaffen das Auto ab", werden wir nie die Kraft aufbringen, den technologischen Fortschritt in Gang zu setzen, den wir im Kampf gegen die Klimakrise zwingend brauchen. Vor allem muss die Gesellschaft mitmachen. Wir als Union sagen: Der Klimaschutz ist für uns am Ende eine doppelte Win-Win-Situation – weil wir unsere Welt erhalten, aber auch unseren Wohlstand. Denn die neuen nachhaltigen Technologien werden die Welt prägen. Da bin ich mir sicher. Und hier müssen wir als Exportland vorn sein – und dafür müssen wir auch als Staat noch mehr Geld für die Forschung und Entwicklung in die Hand nehmen. Unsere Botschaft wird sein: Auch dem Einzelnen wird der Klimaschutz doppelt nutzen – damit er oder sie sich auf der Welt weiter wohlfühlen kann, aber auch der Arbeitsplatz erhalten bleibt. Beim Klimaschutz gewinnen wir zweifach.  

Wo wir jetzt so viel von Zukunft geredet haben - wie sehen Sie eigentlich ihre eigene?
Ich würde dieses Amt sehr gern weiter ausüben. Nach vier Jahren kenne ich die Stellschrauben, an denen man drehen muss, auch um Armin Laschets Versprechen eines Modernisierungsjahrzehnts umzusetzen.

Sie haben nur das Pech, dass außer Ihnen der Parteichef, der Fraktionschef und lauter andere CDU-Granden aus NRW stammen ...
Ich will es mal so sagen: In den vergangenen Jahren war Nordrhein-Westfalen manchmal nicht so gut aufgestellt. Aber jetzt sind wir richtig stark.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false