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Kritiker fürchten, ein Bürgerrat zur Corona-Aufarbeitung werde unweigerlich zum Problem der „False Balance“ führen.

© Getty Images/urbazon

Bürgerrat zur Corona-Aufarbeitung: SPD wollte Esoteriker als Organisatoren einsetzen

Zur Aufarbeitung der Pandemie fordert die SPD einen Bürgerrat. 2024 hätte die Ampel hierfür fast einen Verein beauftragt, in dem sich Verschwörungsgläubige tummeln.

Stand:

Geht es nach dem Willen der SPD, wird der Deutsche Bundestag in der neuen Legislatur einen Bürgerrat zur „gesellschaftlichen Aufarbeitung der Corona-Zeit“ einrichten. So steht es im Sondierungspapier der Arbeitsgruppe „Bürokratierückbau, Staatsmodernisierung, Moderne Justiz“, das dem Tagesspiegel vorliegt. In dem Papier ist allerdings auch vermerkt, dass die Union diese Forderung bislang ablehnt.

Bereits im vergangenen Herbst wollte die SPD-Fraktion einen solchen Bürgerdialog auf den Weg bringen. Was bislang weitgehend unbekannt ist: Mit der Organisation und Durchführung dieses Bürgerrats zur „Aufarbeitung der Corona-Zeit“ sollte ausgerechnet ein Verein beauftragt werden, in dem Akteure aus dem Milieu der Verschwörungstheoretiker und Esoteriker agieren.

Ist es sinnvoll, für die gesellschaftliche Aufarbeitung der Pandemie ausgerechnet einen Verein zu beauftragen, der bemerkenswert viel Verständnis für die Positionen von Corona-Verharmlosern zeigt?

Dass es 2024 nicht dazu kam, lag an der Weigerung der damaligen Koalitionspartner, insbesondere der FDP. Schon vor dem endgültigen Platzen der Ampel war das Thema vom Tisch.

Der Verein, der damals als Teil eines Konsortiums die Durchführung übernehmen sollte, heißt „Mehr Demokratie“. Er war 2023 auch bereits an der Durchführung des ersten Bürgerrats des Deutschen Bundestags mit dem Thema „Ernährung im Wandel“ beteiligt gewesen. Gemeinsam mit drei Instituten hatte „Mehr Demokratie“ nach einer Ausschreibung den Zuschlag für die Durchführung von bis zu drei Bürgerräten erhalten.

Ein Geistheiler, der Nixen und Feen trifft

Mitbegründer des Vereins ist der selbsternannte Geistheiler Thomas Mayer. Er ist Autor des Buchs „Corona-Impfungen aus spiritueller Sicht: Auswirkungen auf Seele und Geist und das nachtodliche Leben“. Mayer behauptet, bis zu 50% der Verstorbenen litten heutzutage an „Blockaden im nachtodlichen Leben“. Diese Zahl sei allerdings nur geschätzt, schreibt er.

In seinem Werk „Rettet die Elementarwesen!“ berichtet Thomas Mayer von konkreten Begegnungen mit Zwergen, Riesen, Nixen und Feen.

Präsent auf Verschwörungsfestivals

Claudine Nierth, die aktuelle Bundesvorstandssprecherin von „Mehr Demokratie“, war früher Dozentin für die von Rudolf Steiner entwickelte spirituelle Tanzkunst Eurythmie. Der geschäftsführende Bundesvorstand Roman Huber ist Mitgründer der kommuneähnlichen „Gemeinschaft Tempelhof“ im baden-württembergischen Kreßberg. „Mehr Demokratie“ unterhält dort auch ein Bundesbüro. Mehrfach traten umstrittene Künstler in Tempelhof auf, zum Beispiel der Liedermacher Eloas Min Barden.

Der Landesverband Rheinland-Pfalz war mit einem Infostand beim sogenannten „Friedenscamp“ der Kampagne „Stopp Ramstein“ vertreten. Die 2015 ins Leben gerufene Kampagne ist stark umstritten, weil zentrale Akteure wiederholt antiwestliche Desinformation sowie Verschwörungsideologien verbreiten. Teilnehmer verharmlosten oder rechtfertigten den russischen Überfall auf die Ukraine.

Derselbe Landesverband war auch mit einem Infostand auf dem rechtsoffenen Verschwörungsfestival „Pax Terra Musica“ vertreten. Zudem bewarb er „Stopp Ramstein“ auf Social Media.

Der Hamburger Landesverband von „Mehr Demokratie“ residiert am Mittelweg 11-12. Dort sitzt das „Rudolf Steiner Haus Hamburg“.

Zum hessischen Landesvorstand gehörte bis 2020 der Aktivist Jan Veil, inzwischen ein szenebekannter Protagonist im Milieu der Verschwörungsgläubigen.

Und so weiter.

Sogenannte Bürgerräte existieren auf kommunaler Ebene schon länger. Die Ampelkoalition nahm sich vor, das Konzept erstmals auch auf Bundesebene umsetzen. Vor allem die SPD trieb dies voran. Mit den Räten wolle man „unsere parlamentarische Demokratie stärken und mehr Teilhabe ermöglichen“, sagte die damalige Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). „Für die Erfolgsgeschichte von Bürgerräten ist entscheidend, dass sie die Gesellschaft möglichst breit abbilden – und konkrete Themen behandeln, die die Menschen in ihrem Alltag betreffen.“

Hohe „False Balance“-Gefahr

Kritiker fürchten, ein Bürgerrat zur Corona-Aufarbeitung werde, zumal unter Anleitung von „Mehr Demokratie“, unweigerlich zum Problem der sogenannten „False Balance“ führen: dass widersprüchliche Einschätzungen und Behauptungen im Raum stehen gelassen werden, ohne einzuordnen, welche dieser Behauptungen wissenschaftlichen Tatsachen entsprechen und bei welchen es sich lediglich um haltlose Verschwörungstheorien handeln.

Die konkrete Befürchtung ist dabei nicht, dass Akteure wie die Bundesvorstandssprecherin Claudine Nierth selbst Verschwörungstheorien verbreiten. Sondern dass ihr Konzept, Vertreter von Verschwörungstheorien in Diskussionsrunden als Gesprächspartner auf Augenhöhe zu akzeptieren und deren Behauptungen nicht genügend einzuordnen beziehungsweise entlang der Kriterien evidenzbasierter Wissenschaft zu beurteilen, enormen Schaden anrichtet. Weil es bizarre, auch extremistische Einzelmeinungen irreführenderweise als seriös darstellt.

„Man dann das Problem sehr gut am Beispiel der Gemeinschaft Tempelhof veranschaulichen“, sagt ein Mann, der sich seit mehreren Jahren im Umfeld dieser Gemeinschaft bewegt. Aus Sorge vor Anfeindungen möchte er seinen Namen nicht in der Zeitung lesen.

Auf dem Gelände leben derzeit rund 180 Menschen, teilweise in eigenen Wohnungen, teilweise in Wohngemeinschaften. Die meisten Bewohner seien ökologisch interessiert, viele kreativ und sozial aufgeschlossen. Was sie eine, sei der Wille zu basisdemokratischen Entscheidungsfindungen, sagt der Mann. „Und die Überzeugung, dass es wichtig ist, möglichst jeden einzubinden.“

Was zunächst nach einer guten Idee klinge, könne allerdings fatal sein, wenn man es nicht schaffe, Antidemokraten klare Grenzen aufzuzeigen. Auf dem Gelände der Gemeinschaft Tempelhof wurde zum Beispiel Jens Eloas Lachenmayr willkommen geheißen, der in der Szene der rechtsextremen und auch antisemitischen Siedlerbewegung „Anastasia-Bewegung“ als „Eloas Min Barden“ bekannt ist. „Wer Extremisten nicht widerspricht, sondern sie sogar auf seinem Grundstück singen lässt, hat etwas Grundlegendes nicht verstanden.“

Bundesvorstandssprecherin Claudine Nierth und der geschäftsführende Bundesvorstand Roman Huber haben ihre Haltung zur Pandemie bereits in einem gemeinsamen Buch festgehalten. Dort schreiben sie etwa: „In der Coronazeit nahm die Diskussion manchmal fast religiöse Züge an. Und zwar auf beiden Seiten.“ Sie verweisen zudem auf eine Studie, laut der „autoritäre Geimpfte (abzugrenzen von gemäßigten Geimpften) ähnlich antidemokratische Einstellungen aufwiesen wie Ungeimpfte auf der anderen Seite der Skala“.

Auf der nächsten Seite ihres Buchs üben die beiden Autoren deutliche Kritik am Berufsbild des „Faktencheckers“. So schreiben sie etwa: „Faktenchecker sind per se nicht unabhängig wie alle anderen Medienschaffenden auch nicht. Auch finanziell nicht, sie werden in der Regel staatlich oder von Stiftungen finanziert.“

In dem geleakten Sondierungspapier, durch das der SPD-Plan diese Woche bekannt wurde, sind alle bereits vereinbarten und alle strittigen Punkte jeweils in Sinneinheiten zusammengefasst.

Die Forderung der SPD, einen Bürgerrat zur Aufarbeitung der Corona-Zeit einzurichten, findet sich im Abschnitt mit der Überschrift „Stärkung der repräsentativen Demokratie“.

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