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Zwei weitere Covid-19-Opfer werden im brasilianischen Manaus bestattet.

© imago images/Fotoarena/Sandro Pereira

Update

Coronavirus in Südamerika: Brasilien droht das nächste Italien zu werden

Südamerika wird zum Epizentrum der Pandemie. Viele Menschen müssen trotz Lockdown arbeiten, um zu überleben. Ein Blick auf die Krisenherde.

Was Brasiliens rechter Präsident Jair Bolsonaro als „Grippchen“ einstufte, entwickelt sich in mehreren Staaten Südamerikas zur Katastrophe. Und während die Abhängigkeiten von China wachsen, wächst zudem die Gefahr, dass sich das Virus des Autoritarismus weiter ausbreitet.

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„Die außerordentlichen Umstände werden dazu genutzt, politische Machtfragen zu "klären", aber jetzt ohne interne Kontrollen und unter Ausnutzung der durch die Pandemie erzwungenen Demobilisierung der Bürger“, warnt Günther Maihold, Vizechef der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ein Überblick:

Brasilien: Das Land könne zum Staat „mit den meisten Coronavirus-Fällen der Welt werden“. Die düstere Voraussage macht ausgerechnet Brasiliens Ex-Gesundheitsminister Henrique Mandetta. Vor einem Monat war er wegen tiefer Differenzen mit Präsident Bolsonaro zurückgetreten.

Inzwischen mehr als 20.000 Tote in Brasilien

Seit Mitte April zeigt die Kurve mit den Neuerkrankungen steil nach oben. Im bevölkerungsreichsten Land Südamerikas wurden mittlerweile 310.000 Ansteckungen mit dem neuartigen Coronavirus nachgewiesen. Die Zahl der Coronavirus-Toten hat die Schwelle von 20.000 überschritten. Mit einem neuen Rekord von 1188 gemeldeten Todesfällen binnen 24 Stunden wuchs die Zahl der Todesopfer auf 20.047, wie das brasilianische Gesundheitsministerium am Donnerstag (Ortszeit) mitteilte. Experten erwarten zudem, dass der Höhepunkt der Ausbreitung des neuartigen Virus in Brasilien erst im Juni erreicht wird.

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Vermutet wird zudem, dass die Dunkelziffern weitaus höher liegen, weil es zu wenig Tests gibt. Von 100.000 Brasilianern wurden im Schnitt bisher nur 62 getestet. Auf zahlreichen Totenscheinen steht daher „Lungenentzündung“ oder „akutes Atemversagen“ obwohl die Todesursache vermutlich Covid-19 war. 

Warum Brasilien so hart getroffen wird

In vielen Städten wie etwa Manaus, Fortaleza, Recife, Belém und Rio de Janeiro ist das Gesundheitssystem bereits überlastet oder am Limit. Warum Brasilien so hart getroffen wird, hat mehrere Gründe. 

Die Gouverneure der 26 Bundesstaaten verhängten schon im März Quarantäne-Maßnahmen, als die ersten Corona-Fälle in São Paulo und Rio auftauchten. Weil die Fallzahlen danach erst einmal nicht sonderlich anstiegen, machte sich eine falsche Sicherheit breit. 

Viele Menschen hatten keine andere Wahl

Viele Menschen fragten sich, was das Ganze soll und wurden unvorsichtig. Covid-19 blieb etwas Abstraktes und insbesondere in den Armenvierteln, den Vorstädten und vielen Provinzorten nahm das Leben wieder an Fahrt auf. Das rächt sich nun. 

Allerdings hatten viele Menschen auch keine andere Wahl, als zu arbeiten. Mindestens 40 Millionen Brasilianer (von 210 Millionen) sind im informellen Sektor tätig. Sie sind davon abhängig, täglich etwas auf der Straße zu verkaufen, putzen zu gehen oder Hilfsarbeiten zu verrichten. 

Zwar zahlt ihnen die Regierung nun drei Monate lang umgerechnet 100 Euro Corona-Hilfe, aber die Auszahlung war und ist von vielen Pannen begleitet und führte bereits zu enormen Schlangen vor den Banken.

 

Derjenige, der eine kohärente Antwort auf die Pandemie jedoch am meisten erschwert, ist Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Er fordert die Menschen dazu auf, wieder arbeiten zu gehen, und empfiehlt den Gebrauch des umstrittenen Malaria-Medikaments Hydroxychloroquin. 

Brasiliens zweiter Gesundheitsminister inmitten der Pandemie, Nelson Teich, trat deswegen nach nur 27 Tagen vergangene Woche zurück. Das Amt übt nun ein Armee-General aus. Ein Dutzend weitere Posten im Gesundheitsministerium wurden mit Militärs besetzt, keiner mit Expertise in dem Bereich.

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Bolsonaro sabotiert regelrecht die Anstrengungen der Landesgouverneure, das Virus einzudämmen. Dabei spart er nicht mit Beleidigungen, nennt die Landesherren „Diktatoren“ und „Mistkerle“. Eine Folge: Das Virus verbreitet sich laut Studien besonders schnell an Orten, an denen Bolsonaro viel Zustimmung hat. 

Das Wissenschaftsjournal „The Lancet“ nannte den Präsidenten die „größte Gefahr“. Die Sorge Bolsonaros gilt der Wirtschaft. Diese ist seit 2013 in einer Krise, zuletzt war ein leichter Aufwind zu registrieren. Der ist nun vorüber. Die Arbeitslosenzahl von derzeit 13 Millionen könnte sich bald verdoppeln und die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas um rund zehn Prozent einbrechen.

Einen Mundschutz trägt er dann doch: Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien.
Einen Mundschutz trägt er dann doch: Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien.

© Eraldo Peres/AP/dpa

Mehr Gewalt in Venezuelas Hauptstadt

In Venezuela, dem Land mit den offiziell größten Ölreserven, gibt es kaum noch Sprit, weil mangels eigener Raffinerien der oft importiert werden muss. Das verschärft die ohnehin schon dramatische Lebensmittelknappheit, aus Caracas wird eine massive Zunahme von Gewalt und Kriminalität berichtet. 

In den letzten zwei Monaten stiegen die Stromausfälle in Venezuela noch einmal um 11 Prozent, zudem fehlt überall Wasser. Die Zahl von 824 Corona-Infektionen und zehn Toten, die mit oder an Covid-19 gestorben sind, glaubt kaum jemand. 

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Hungerproteste werden gewaltsam unterbunden, der linke Machthaber Nicolás Maduro nutzt die Corona-Krise zur Festigung seiner Macht. Dabei hilft auch China, das Land schickte Dutzende Ärzte und wie Russland hunderte Tonnen an Hilfsgütern. 

Der von den USA mit einem Kopfgeld zur Fahndung ausgeschriebene Maduro schlachtet zudem propagandistisch aus, dass trotz allem derzeit zehntausende vor dem Elend geflüchtete Menschen aus Peru, Kolumbien und Ecuador zurückkehren. Dort können sie wegen der Lockdowns fast nichts mehr verdienen, in Venezuela sind die Maßnahmen laxer.

Viele Infektionen trotz Ausgangssperre in Peru

In Peru wurde am 6. März der erste Covid-19-Fall festgestellt, bei einem Reisenden aus Europa, also fast sechs Wochen nach dem ersten Fall in Deutschland. Anders als in Brasilien wurde frühzeitig landesweit am 16. März ein Ausnahmezustand und eine landesweite Quarantäne verhängt, Präsident Martín Vizcarra hat dies nun noch einmal bis zum 24. Mai verlängert. 

Flüge und der Fernbusverkehr wurden eingestellt, Grenzen geschlossen; und eine komplette Ausgangssperre gilt von 18 Uhr bis vier Uhr morgens. Seit 4. Mai gibt es erste Lockerungen, Kinder dürfen einmal täglich raus, Restaurants können Speisen nach Hause liefern, Bergbau und Textilindustrie schrittweise die Produktion wieder aufnehmen. 

Kinder in Peru dürfen jetzt wieder einmal täglich raus.
Kinder in Peru dürfen jetzt wieder einmal täglich raus.

© Alex Rosemberg/dpa

Trotz der Maßnahmen ist die Zahl der Corona-Fälle auf über 104.000 gestiegen. Auch weil gerade die ums Überlebenden kämpfenden Menschen in ländlichen Regionen, die kein Einkommen mehr haben, weiter versuchen, irgendwie etwas zu verkaufen. 

Damit ist Peru nach Brasilien das von der Pandemie am zweitstärksten betroffene Land in Südamerika. Mindestens 3024 Patienten sind laut Gesundheitsministerium im Zusammenhang mit der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben. 

China schickte Hunderttausende Schnelltests

Bis zu sieben Millionen Haushalte sollen eine Unterstützung (Bono Familiar Universal) in Höhe von 760 Soles (rund 200 Euro) bekommen. In der Not wandte sich Vizcarra vor allem an Chinas Staatschef Xi Jinping, zwei Mal telefonierten sie zuletzt miteinander. 

China ist einer von Perus wichtigsten Handelspartnern - und schickte als erste Maßnahme über 330.000 Corona-Schnelltests und hunderttausende Schutzmasken. 

In peruanischen Medien wurde vermerkt, dass sich Vizcarra explizit nicht der Kritik von US-Präsident Donald Trump an einem zu starken Einfluss Chinas auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) anschließen wollte. Durch die Krise könnten die Abhängigkeiten weiter wachsen.

Argentiniens Corona-Erfolg auf Kosten der Wirtschaft

Das Land wird, wenn man so will besonders, hart vom Präventionsparadoxon getroffen. Zum einen gilt es in Südamerika als Erfolgsstory im Kampf gegen Covid-19 - zum anderen droht nun die Pleite. Das Land verhängte im Gegensatz zu seinem großen Nachbarn Brasilien einen präventiven Lockdown. 

„Von einer Delle in der Wirtschaftsleistung erholt man sich. Vom Tod nicht“, rechtfertigte Argentiniens peronistischer Präsident Alberto Fernandez die Maßnahme. Während anderthalb Monaten durften einzig Lebensmittelläden, Supermärkte und Apotheken öffnen, die Bevölkerung musste in den eigenen vier Wänden bleiben.

Die Zeit nutzte die Regierung, um das Gesundheitssystem auf die Pandemie vorzubereiten Der Effekt: Die Kurve mit den Neuansteckungen flachte stark ab - weswegen die Regierung nun begonnen hat, die Auflagen zu lockern. Argentiniens Statistik verzeichnet in dieser Woche rund 8500 Covid-19-Kranke und fast 900 Tote. 

Rund 85 Prozent der Fälle konzentrieren sich dabei auf den Großraum der Hauptstadt Buenos Aires, wo rund ein Drittel der etwa 45 Millionen Argentinier lebt. Allerdings traf es die Armen sehr viel stärker als die Reichen. Dies auch, weil die Wasserversorgung in einigen Armenvierteln von Buenos Aires tagelang nicht funktionierte. 

Inflation bei 50 Prozent

Und: Der Erfolg auf gesundheitlichem Feld wird nun überschattet von einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Inflation beträgt zirka 50 Prozent und die Regierung verhandelt derzeit über die Auslandsschulden in Höhe von 65 Milliarden Dollar, die sie gerne zu Zweidritteln erlassen haben möchte. 

Sollten die Verhandlungen scheitern, droht Argentinien inmitten der Corona-Pandemie wieder einmal die Staatspleite, dann als erstem Staat weltweit infolge der Virus-Verwerfungen. Die Zentralregierung und Landesgouverneure ziehen hier aber anders als in Brasilien an einem Strang. 

Und: Die peronistische Bewegung, die Positionen von rechts bis links vereint, übt immer noch eine große Kraft aus, insbesondere auf die Arbeiterklasse.

Das Bergamo Südamerikas liegt in Ecuador

Das Bergamo Südamerikas heißt Guayaquil. Die Hafenstadt mit 2,6 Millionen Einwohnern liegt an der Küste Ecuadors und ist der stärkste Wirtschaftsstandort des Landes. Ende Februar wurde hier der erste Covid-19-Fall registriert: eine 71-jährige Frau, die zwei Wochen zuvor aus Spanien zurückkehrt war. 

Weder sie noch weitere erkrankte Fluggäste wurden getestet. Ende März verzeichnete Guayacil dann den bis dahin aggressivsten Covid-19-Ausbruch in Südamerika. Die Behörden der Stadt waren völlig überfordert, als Tausende Menschen binnen weniger Tage erkrankten und starben. 

Viele der Toten wurden von hilflosen Angehörigen auf die Straße gelegt oder zuhause in Plastikplanen eingewickelt. Die Friedhöfe kamen mit den Beerdigungen nicht hinterher, so dass die Leichen in Kühlhäusern gelagert wurden, während Bagger dutzende Massengräber aushoben.

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Die chaotische Situation schaffte zusätzlichen Unmut über die Regierung von Präsident Lenin Moreno, gegen den es bereits 2019 gewalttätige Proteste gegeben hatte. Die Regierung wiederum macht die Bevölkerung für den unkontrollierten Ausbruch verantwortlich, weil diese sich nicht an die Quarantänevorgaben gehalten habe.

Heute verzeichnet Ecuador bei 17 Millionen Einwohnern fast 33.000 Covid-19-Fälle und rund 7000 Tote, die große Mehrzahl in der Region von Guayacil. Die Dunkelziffer dürfte allerdings sehr viel höher liegen, weil auch Ecuador nicht genug testet. 

Schätzungen gehen von drei mal mehr Toten aus als angegeben. In Südamerika gehört Ecuador gemessen an der Bevölkerung damit zu den Ländern, die am stärksten vom Virus getroffen wurden, mancherorts ist die Sterblichkeit fünf Mal höher als in anderen Jahren.

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