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Die Todesfahrt von Magdeburg, bei der am 20. Dezember fünf Menschen getötet und mehr als zweihundert verletzt werden, erschüttert die Republik. Am Tag danach legen die Trauernden Blumen und Kerzen an der Johanniskirche nieder.

© picture alliance/dpa/Jan Woitas

Deutschland 2024: Ein Jahr des politischen Scheiterns

Erst wurde gegen rechts demonstriert, dann flachte es ab. Einer Gesellschaft, ermattet von Debatten, fehlt die Kraft. Aber es gibt Hoffnung.

Christian Tretbar
Ein Essay von Christian Tretbar

Stand:

Man muss es gleich so sagen: Das Jahr 2024 ist ein Jahr des politischen Scheiterns. Nicht nur für einige Parteien, sondern vor allem für das, was man als liberale gesellschaftliche Mitte bezeichnen kann: die Wahl von Donald Trump, das Erstarken der politischen Extreme, aber auch der Umschwung in der Migrations- und Flüchtlingspolitik.

Aufstand gegen rechts

Dabei beginnt das Jahr mit einem Aufbäumen der demokratischen Mitte. Recherchen des Reporternetzwerks Correctiv legen offen, was die AfD tatsächlich politisch vorhat. Es geht um einen „Masterplan Remigration“. Nüchtern betrachtet ist Remigration die Zurückführung von Migranten in ihr Heimatland. Unter Rechtsextremisten ist das allerdings ein Kampfbegriff, der die Deportation meint – von Menschen mit laufendem Asylverfahren, mit Bleiberecht sowie all jenen, die nicht den völkischen Vorstellungen der Rechtsextremen entsprechen.

Kurz nach Bekanntwerden dieses Treffens kommt es zu massenhaften Protesten und einem seit Langem nicht mehr in Deutschland gesehenen Aufstand der gesellschaftlichen Mitte. Fast eine Million Menschen gehen auf die Straße, um gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit zu demonstrieren.

Mehr wird daraus aber erstmal nicht, im Gegenteil. Es ist für viele Monate das vorerst letzte massenhafte Auflehnen dessen, was viele gerne als gesellschaftliche Mitte sehen, was aber wohl eher als der liberale Teil des Landes gesehen werden kann. Bis zum Spätsommer ebbt die Welle des Protests gegen rechts einfach ab, sie versiegt im politischen Klein-Klein der Migrationspolitik um Bezahlkarten, Rückführungsabkommen und sicheren Drittstaaten.

Verunsicherung und Ängste kommen auf

Viele Menschen sind unsicher. Wie verteidigt man die Werte einer offenen Gesellschaft, wenn gleichzeitig ein großer Teil dieser Gesellschaft Ängste hat: vor einer Zunahme der Migration, getrieben von diversen Anschlägen im Jahr 2024, wie zuletzt kurz vor Weihnachten in Magdeburg, als mehrere Menschen bei einem Angriff auf den Weihnachtsmarkt starben. Hinzu kommen Sorgen vor Veränderungen ganz allgemein und eine diffuse Abstiegs-Angst, einem Wohlstandsverlust.

In der Folge gehen die Proteste zurück, Debatten über schärfere Abschiebungen gewinnen die Oberhand. Und richtig Dynamik bekommt dieser Überbietungswettbewerb durch den Messerangriff von Mannheim – wenige Tage vor der Europawahl.

Ein in Deutschland lebender 25-jähriger Afghane greift Ende Mai bei einer Kundgebung der Bürgerbewegung Pax Europa mehrere Menschen mit einem Messer an. Dabei kommt ein Polizist ums Leben und mehrere Menschen werden schwerverletzt. Der Afghane hat eine Aufenthaltserlaubnis, sein Asylantrag war aber abgelehnt worden, seine Tat soll einen islamistischen Hintergrund haben.

Das Thema wirkt in die Europawahlen wenige Tage später massiv hinein und vor allem die AfD profitiert deutlich davon. Sie verbessert ihren Stimmenanteil um fast fünf Prozentpunkte im Vergleich zu 2019.

Nach der Europawahl ist eines auf jeden Fall klar: Die Ampel steht vor einem heißen Sommer. Die SPD fährt ein schlechtes, die grüne Partei ein verheerendes Ergebnis ein. Die FDP im Grundsatz auch. Neustart oder Neuwahlen?

Diese Wahlergebnisse führen aber nicht zu neuen Protesten, sondern eher zu neuer Resignation. Deutschland wird im Laufe des Jahres immer stärker als Problemfall gesehen. Das Land hadert mit den multiplen nationalen und geopolitischen Krisen. Der Krieg in der Ukraine, die steigenden Kosten in den Sozialsystemen, die Rente, die Migration und, neu auf der politischen Tagesordnung 2024, die sich verschärfende wirtschaftliche Krise.

Die deutsche Wirtschaft ist im Sinkflug

Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, werden Abstiegsängste verstärkt. Jetzt geht es einerseits konkret um Jobs, wie zum Beispiel bei VW, um steigende Preise im Alltagsleben, schlicht um den eigenen Geldbeutel. Aber andererseits schwingt bei dieser Wirtschaftskrise noch deutlich mehr mit. Für viele Menschen ist es auch eine Art ökonomische, politische und gesellschaftliche Sinnkrise. Sind wir noch jemand in der Welt? Worin sind wir gut? Stehen wir eigentlich noch zusammen? Wie gehen wir mit der Vielzahl der nationalen und internationalen Krisen mental um? Haben wir noch Innovationskraft?

Deutschland, so die Prognose des Internationalen Währungsfonds im Juni, wird Schlusslicht unter den Industrienationen bleiben. Das Bruttoinlandsprodukt wächst schon seit Jahren kaum mehr und viele Grundlagen der deutschen Wirtschaft, wie die Automobilindustrie, die Chemie- und die Stahlindustrie stecken mitten in der Transformation. Das heißt Stagnation statt Wachstum.

In anderen Industrienationen ist die Lage etwas besser. Dort wächst die Wirtschaft, auch weil der Staat kräftig investiert und neue Technologien entwickelt werden. Deutschland aber diskutiert über die Schuldenbremse und hängt stärker vom Export und damit der geopolitischen Lage ab. Und die ist 2024 auch schwierig.

Geopolitische Lage schwächt Deutschland

Im Nahen Osten eskaliert die Situation. Israel, umzingelt von Feinden, die das Existenzrecht des Staates Israel nicht anerkennen, wehrt sich und führt seit dem 7. Oktober 2023, als beim Massaker der Hamas mehr als 1200 Menschen starben, mehrere Kriege gleichzeitig. Der Konflikt schwappt nach Deutschland. Auch hier kommt es zu Protesten, die darin enden, dass viele Jüdinnen und Juden sich nicht mehr sicher fühlen auf deutschen Straßen. Universitäten werden gestürmt und besetzt.

23.05.2024, Berlin: Pro-Palästinensischen Demonstranten haben sich im Innenhof am Zaun und vor dem Institut für Sozialwissenschaften der Berliner Humboldt-Universität (HU) versammelt.

© dpa/Soeren Stache

Gleichzeitig läuft der Krieg in der Ukraine seit mehr als 1000 Tagen und es sind kaum Fortschritte zu erkennen. Die Stimmung in Deutschland, vor allem in Ostdeutschland, dreht sich. Es ist der Nährboden für den Aufstieg des BSW – Bündnis Sahra Wagenknecht. Wagenknecht. Die ehemalige Kommunistin gründet 2024 ihre eigene Partei und landet damit Wahlerfolge. Sie ist eine weitere Protagonistin auf dem Feld der politischen Extreme, schwer einzuordnen zwischen Sozialismus und Nationalismus.

Und selbst in Momenten des großen geopolitischen Glücks, die es am Ende des Jahres 2024 auch gab, schwingt eine Unsicherheit mit. In Syrien wird der jahrelange Diktator Assad gestürzt. Doch wie es genau in dem Land weitergeht, ist ungewiss.

Und dann kehrt auch noch Trump zurück

Und Ende des Jahres gipfelt die geopolitische (Krisen-)Lage in der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Und das in einer Art und Weise, die an Deutlichkeit kaum zu übertreffen ist. Anders als 2016 gewinnt Trump diesmal nicht nur die Mehrzahl der Stimmen für das Wahlgremium, sondern auch die Mehrheit im ganzen Land.

Trump und sein Team am Wahlabend im November

© AFP/JIM WATSON

All das führt auch in der deutschen Gesellschaft zu einer massiven Verunsicherung. Sind wir noch in der Mehrheit mit unserem demokratischen und liberalen Wertekanon? Sind wir ökonomisch wie politisch noch stark? Können wir noch Dialoge führen? Sind wir in der Lage zu Kompromissen? Nationale Sichtweisen greifen immer mehr Raum.

Die Debatten werden härter und kompromissloser. Das gesamte politische System wird zunehmend infrage gestellt. Die Leipziger Autoritarismusstudie bringt für 2024 erschreckende Erkenntnisse hervor: Die Zufriedenheit mit der Demokratie geht deutlich zurück und die Zustimmung zu rechtsextremen Äußerungen steigt – auch im Westen.

Plötzlich werden die Folgen einer unregulierten Migration bis in die Mitte der Gesellschaft spürbarer und sichtbarer. Nach Mannheim gibt es weitere Gewalttaten, die von Migranten ausgehen. Besondere Schockwellen löst der als islamistischer Anschlag eingestufte Messerangriff eines Syrers in Solingen bei einem Stadtfest aus. Der Mann tötet bei seiner Attacke drei Menschen und verletzt acht weitere zum Teil lebensgefährlich.

Die Ampel fällt als Stabilitätsfaktor aus

Und wie tief die Verunsicherung ist, wie weitreichend auch die gesellschaftliche Mitte Fragezeichen auf der Stirn hat, zeigen die Wahlen in einigen ostdeutschen Bundesländern im Spätsommer 2024.

Das ganze Jahr über wurde schon mit einer gewissen Sorge auf diese Wahlen geschaut. Viele prophezeiten einen Erdrutschsieg der AfD. Und ja, die AfD fährt wie erwartet massive Erfolge ein. Dennoch: Es ist auch ein erneutes kleines Aufbäumen des liberalen Teils der Gesellschaft zu sehen – zumindest in Sachsen und Brandenburg. Dort können die amtierenden Ministerpräsidenten Woidke (SPD, Brandenburg) und Kretschmer (CDU, Sachsen) die politische Mitte hinter sich versammeln und mit hauchdünnem Vorsprung vor der AfD stärkste Kraft werden. In Thüringen nicht, da erhält die rechtsextreme Partei die meisten Stimmen.

Was Deutschland in diesem Jahr bei den Wahlen im Osten erlebt hat, ist vielleicht nur ein Frühwarnsystem. Etwas, was ähnlich auch im Westen oder gar im Bund folgen kann. Koalitionen werden immer komplizierter, weil immer unterschiedlichere politische Positionen zusammenfinden müssen. In Brandenburg regiert die SPD jetzt mit dem BSW; in Thüringen und Sachsen gibt es Minderheitsregierungen. Die weitere Zersplitterung des Parteiensystems macht es aber nicht nur schwierig, Koalitionen zu bilden, sondern auch, sie zusammenzuhalten.

Das grüne Zeitalter scheint vorbei zu sein

Die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP im Bund zeigt das Problem. Sie hätte Impulse setzen müssen, Medizin verordnen gegen die um sich greifende politische Tristesse, Verunsicherung und Entfremdung. Sie hätte Orientierung, Richtung und Stärke, gar Zuversicht vermitteln können. Doch Fehlanzeige. Die Ampel fällt in dieser Funktion schlicht aus.

Scholz, Habeck, Lindner: Sie entscheiden heute, was aus der Ampel wird. (Archivbild)

© Kay Nietfeld/dpa

In der SPD läuft das ganze Jahr eine Debatte um die Frage, wer eigentlich der bessere Kanzlerkandidat sei, der unbeliebte Kanzler Olaf Scholz oder Verteidigungsminister Boris Pistorius, der seit Monaten in allen Umfragen als der beliebteste Politiker in Deutschland geführt wird. Am Ende setzt sich Scholz durch und Pistorius zieht zurück.

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Die Grünen kämpfen mit massiven Stimmverlusten. Vom grünen Zeitalter ist nichts mehr geblieben. Klimapolitik und gesellschaftlicher Fortschritt sind von der politischen Tagesordnung im Jahr 2024 so gut wie verschwunden. Die Parteiführung tritt im Herbst geschlossen ab, gescheitert auch an der öffentlichen Stimmung. Und die FDP – kämpft ums Überleben, sie fliegt ein ums andere Mal aus den Landtagen raus und die Umfragen halten sie konstant knapp über oder knapp unter den fünf Prozent. Das Ampel-Aus hängt wie ein Damoklesschwert über der Koalition – und dem Land.

Ein Tiefpunkt, der den Weg nach vorne weist

Im November, und passenderweise auch noch zeitgleich zur erneuten Wahl von Donald Trump, zerbricht die Ampel dann endgültig. Vordergründig geht es um gescheiterte Haushaltsverhandlungen, tatsächlich war das Bündnis seit Monaten faktisch zerrüttet. Es folgt ein Rosenkrieg zwischen SPD und FDP, bei dem sich Scholz und FDP-Chef Lindner gegenseitig vorwerfen, das Ampel-Scheitern lange geplant zu haben. Vor allem die FDP verfängt sich Ende des Jahres genau bei dieser Frage in einem Netz aus Lügen.

Das Scheitern der Ampel ist auch ein Scheitern der Kompromissfindung. Das ganze Jahr über gibt es Versuche, die Ampel zusammenzuhalten. Doch selbst die erzielten Einigungen bei der zentralen Frage, wie man einen gemeinsamen Haushalt aufstellen kann, werden immer wieder öffentlich infrage gestellt. Und das in einer Regierung, die eigentlich gemacht war für eine liberale Gesellschaft, in der progressive und konservativere Teile der gesellschaftlichen Mitte vereint waren.

Vielleicht ist jener 7. November, als Trump gewählt und die Ampel gescheitert ist, aber auch der notwendige Tiefpunkt. Jener Punkt, ab dem man sich berappelt, aufrichtet und nach vorne blickt, vor allem aber Lehren zieht aus dem politischen Scheitern.

Denn nicht nur die Ampel zerbricht an der Unfähigkeit, noch zusammenzukommen. Auch die Gesellschaft wirkt ermattet von endlosen Debatten über Corona, den Krieg in der Ukraine oder den Nahen Osten.

Vielleicht bieten die für Ende Februar 2025 geplanten Neuwahlen eine echte Chance, über Lehren zu diskutieren. Darüber, dass es nicht reicht, nur gemeinsam gegen den vermeintlichen politischen Feind zu sein. Gerade politische Parteien der Mitte, das hat die Wahl in den USA gezeigt, brauchen Angebote, wie eine wirtschaftliche Krise zu bewältigen ist, wie man sich zukunftsfest macht.

Zu den Lehren gehört aber auch, dass es keine liberale Dominanz, gar Arroganz gibt, keine Hegemonie über die Frage, was gesellschaftlich richtig oder falsch ist. Das Jahr 2024 endet mit dem Beginn eines Wahlkampfs, der die Möglichkeit eröffnet, über Konzepte, politische Ideen und Richtungen zu diskutieren. Und das Beste: die liberale demokratische Gesellschaft hat es bei Wahlen selbst in der Hand, über die Zukunft des Landes zu entscheiden. Es ist die Hochphase einer Demokratie. Insofern ist das Jahr 2024 am Ende, nach dem großen Scheitern, auch ein Jahr des zuversichtlichen Aufbruchs in die Zukunft.

Dieser Text erschien zuerst als „Deutschland-Essay“ im Brockhaus Jahrbuch 2024 bei Palmedia.

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