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Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 9 Juli 2016 in Warschau beim Nato-Gipfel.

© dpa

Nato-Treffen in Warschau: Erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber Osteuropa

Das Vorgehen Russlands hat die europäische Friedensordnung beschädigt – das darf die Nato nicht ignorieren. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Claudia von Salzen

Erstmals in der Geschichte der Bundeswehr sollen deutsche Soldaten in Osteuropa stationiert werden. Die Nato entsendet vier Bataillone nach Polen und in die baltischen Staaten, in Litauen soll Deutschland die Führung übernehmen. Auf der inneren Landkarte vieler Deutscher sind diese Länder auch ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs seltsam blass geblieben. Sollen deutsche Soldaten künftig etwa eine frühere Sowjetrepublik verteidigen helfen? Ist der Beschluss, den die Nato auf ihrem Gipfel in Warschau gefasst hat, nicht eine Provokation in Richtung Moskau? Und werden diese Länder überhaupt von Russland bedroht?

Wie konkret ist die Bedrohung für die Osteuropäer?

Schon lange wünschen sich Polen und die baltischen Staaten mehr Unterstützung von der Nato. Seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland und dem Krieg in der Ostukraine, an dem Moskau direkt beteiligt ist, hat dieser Wunsch nach mehr Sicherheit neue Dringlichkeit erhalten. Denn das Vorgehen Russlands hat die europäische Friedensordnung nachhaltig beschädigt. Die Gewissheit, dass im heutigen Europa nie mehr Grenzen gewaltsam verändert werden könnten, ist zerstört. Gerade Deutschland sollte nicht den Fehler machen, die Sicherheitsbedenken, die es in Estland, Lettland, Litauen und Polen gibt, als hysterische Überreaktion abzutun, nur weil die nationalkonservative Regierung in Warschau oft nicht den richtigen Ton trifft. Selbst in Schweden und Finnland, zwei Ländern, in denen die Bevölkerung traditionell auf die Politik der Neutralität stolz ist, wächst erstmals die Zahl derjenigen, die einen Beitritt ihres Landes zur Nato wünschen.

Doch wie konkret ist nun die Bedrohung für die Osteuropäer? Zu den Schwierigkeiten der neuen sicherheitspolitischen Lage in Europa gehört ihre Unberechenbarkeit. Niemand hätte noch vor drei Jahren für möglich gehalten, dass es in Europa zu einem Krieg unter direkter Beteiligung Russlands kommen würde. Doch genau das ist in der Ostukraine geschehen. Wer den Konflikt noch immer als einen Bürgerkrieg darstellt, als einen Kampf von Separatisten gegen die Zentralmacht in Kiew, wiederholt bereitwillig eines der zentralen Stereotypen der russischen Propaganda.

Kaum jemand hätte es für möglich gehalten, dass innerhalb kurzer Zeit in Deutschland Großdemonstrationen organisiert werden können, deren russlanddeutsche Teilnehmer auf eine Propagandageschichte des russischen Staatsfernsehens über die angebliche Vergewaltigung eines Mädchens hereingefallen sind. Und kaum jemand hätte geglaubt, dass Moskaus Sicherheitskräfte einen estnischen Polizeioffizier auf dem Territorium Estlands, eines Nato- Landes, festnehmen und nach Russland verschleppen. Doch auch das ist vor zwei Jahren tatsächlich passiert – noch dazu am selben Tag, als die Nato in Wales über ihre Reaktion auf die veränderte Sicherheitslage nach der russischen Aggression in der Ukraine beriet. Die Botschaft Moskaus an die Nato hätte deutlicher kaum sein können. Nimmt man die erklärte Absicht des Kremls hinzu, russische Minderheiten überall zu schützen, verwundert es nicht, dass sich Staaten in Osteuropa ernsthafte Sorgen um ihre Sicherheit machen.

Tief verwurzelter Antiamerikanismus

Vor diesem Hintergrund ist die Entsendung von 4000 Soldaten nach Polen und ins Baltikum ein symbolischer Schritt. Sie ist ein Zeichen, dass die Nato diese Länder im Falle einer militärischen Konfrontation nicht im Stich lassen würde, und zugleich ein Signal an Russland, dass die Nato einen Angriff auf eines dieser Länder als Angriff auf das Bündnis betrachtet. Eine Gefahr für Russland stellen 4000 Nato-Soldaten dagegen nicht dar. Das wird man auch im Kreml wissen. Doch es ist im Interesse Moskaus, die Nato als Provokateur, gar als Aggressor darzustellen, dessen Handlungen Russland zur Reaktion zwingen. Dabei hat Moskau schon jetzt deutlich mehr Soldaten im Westen des Landes. Zudem hat die Regierung angekündigt, bis Ende des Jahres dort drei Divisionen zu stationieren – also mindestens 30 000 Soldaten.

Für die Zukunft des westlichen Verteidigungsbündnisses ist entscheidend, dass es sich nicht auseinanderdividieren lässt. Auch deshalb hat der Beschluss der Nato eine historische Bedeutung. Denn er zeigt, dass sich gerade die großen Nato- Staaten für die kleineren Neumitglieder einsetzen. Diese Länder haben sich entschlossen, dem westlichen Bündnis beizutreten. Wer die Nato-Osterweiterung als Fehler betrachtet, weil dadurch Russland provoziert worden sei, spricht ihnen in zynischer Weise das Recht auf freie Entscheidung ab.

In Deutschland speist sich die Kritik am Engagement der Nato in Osteuropa aus einer erschreckenden Gleichgültigkeit gegenüber den östlichen Nachbarn, einem tief sitzenden Misstrauen gegenüber der Nato und einem ebenso tief verwurzelten Antiamerikanismus, der sowohl bei ganz Linken als auch ganz Rechten zu beobachten ist. Von den Osteuropäern könnten die Deutschen lernen, dass die Nato nicht nur ein Verteidigungsbündnis ist und schon gar kein Relikt aus dem Kalten Krieg, sondern auch eine Wertegemeinschaft.

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