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European Focus #5: Der Klang der Waffen

„Alles klingt bedrohlich“ +++ Für Frieden in der Ukraine braucht es mehr europäische Waffen +++ Der ungarische Aufstand als rhetorische Waffe +++ Zahl der Woche: 0 +++ Die Ukraine unterstützen… und Frankreichs Rüstungsindustrie.

Stand:

Hallo aus Madrid, 

wir müssen – schon wieder – über Waffen sprechen. Hier in Spanien stößt man auf eine Mauer des Schweigens, wenn man versucht, Einzelheiten über die bisher an die Ukraine gelieferte Ausrüstung herauszufinden. Dabei ist die Waffen-Frage entscheidend für jede Phase des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Das beweist allein schon der jüngste Terror mit preisgünstigen iranischen Drohnen.

Der Krieg hat bei vielen in Europa die Einsicht verstärkt, dass bisherige „rote Linien“ nicht mehr gelten. So soll die Ukraine mit komplexeren Luftabwehrsystemen ausgestattet werden. Doch jetzt, wo der Winter vor der Tür steht und der Krieg bereits acht Monate andauert, könnte sich Europa angesichts der zunehmenden Produktions- und Finanzierungsprobleme verzetteln.

Es mag paradox erscheinen, dass mehr Waffen für die Ukraine den Krieg verkürzen; eine Drosselung der Lieferungen würde die Ukraine aber in jedem Fall in eine unhaltbare Lage versetzen. Für einige Staaten ist dies glasklar, während bei anderen der zusätzliche Anreiz, die eigene Rüstungs- und Verteidigungsindustrie zu stärken, eine Rolle spielt. Und wieder andere in Europa nutzen schräge Vergleiche und schrille Narrative als neuentdeckte Waffen. Manchmal mag man seinen Ohren kaum trauen. 

Alicia Alamillos, dieswöchige Chefredakteurin

„Alles klingt bedrohlich“

„Heftige Explosionen ließen die Wände meines Hauses erzittern. Es war wieder wie im Februar; nur dass uns die Russen jetzt mit Drohnen aus dem Iran angreifen. Ich hörte Maschinengewehre in der Stadt: Unsere Armee nutzt diese, um Drohnen abzuschießen. Im Gegensatz zum Februar fühle ich mich nicht wie gelähmt. Ich bin verärgerter; und ich wurde gleichzeitig noch vorsichtiger. Ich achte auf alle Geräusche in meiner Umgebung: Mopeds, Motorräder, selbst Rasenmäher… alles klingt für mich derzeit bedrohlich. Manchmal wache ich nachts auf und meine, Explosionen oder eine Drohne zu „hören“. Doch in Wirklichkeit ist dort nichts als Stille. Der Krieg geht weiter.“

Als erstmals Drohnen in Kiew einschlugen, teilte die 42-jährige Oksana Kowalenko in Echtzeit in einem Telegram-Gruppenchat, was sie sah und hörte. Für den European Focus dieser Woche habe ich sie gebeten mir zu erzählen, wie sie sich damals fühlte – und was sie aktuell empfindet.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

Für Frieden in der Ukraine braucht es mehr europäische Waffen

Die jüngste Phase der russischen Terrorstrategie in der Ukraine zeigt vor allem eines: dass Moskau zunehmend ratlos ist. Doch sie zeigt uns auch, dass es wohl keinen besseren Zeitpunkt als jetzt gibt, um das ukrainische Militär weiter zu stärken. Die russischen Streitkräfte sind nicht in der Lage, die besetzten Gebiete zu halten, geschweige denn neue zu erobern. Die Ukrainer hingegen erzielen Erfolge und scheinen Landesteile nach und nach zu befreien – dank der aus dem Westen gelieferten Waffen.

Die Kapazitäten der Staaten, die bisher die meisten Waffen an Kiew geliefert haben, gehen jedoch langsam zur Neige. Dies ist ein gefährlicher Moment für die EU. Sie muss sich jetzt noch stärker engagieren, statt die Waffenlieferungen zurückzufahren.

In Polen waren seit Beginn des Konflikts sowohl die Regierung als auch die gesamte Opposition der Ansicht, man müsse an der Seite der Ukraine stehen; allein schon, um sich selbst gegen russische Aggressionen zu verteidigen.

Bislang hat Warschau Ausrüstung im Wert von 1,7 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Tatsächlich hat Polen der Ukraine so viele Waffen geliefert, dass das Land nun selbst Probleme mit seinen Beständen hat. Deshalb wurden umgehend neue Panzer, Flugzeuge und andere schwere Waffen aus den Vereinigten Staaten und Südkorea bestellt, ungeachtet der hohen Kosten.

In Polen hat man jedoch das Gefühl, der Rest Europas tue nicht genug. Nach Warschauer Lesart ist das kürzlich vereinbarte Militärhilfepaket der EU in Höhe von 3,1 Milliarden Euro nicht ausreichend. Allein die von Polen bereits gelieferte Ausrüstung macht mehr als die Hälfte dieses Betrags aus. Die Ausgaben des Landes dürften somit kaum kompensiert werden (schließlich warten noch 26 weitere EU-Länder auf derartige Erstattungen).

Es ist an der Zeit, dass sich andere europäische Länder stärker für die Verteidigung der Ukraine engagieren. Ein Rückzug Russlands kann nur durch einen militärischen Sieg erreicht werden. Paradoxerweise ist dies der einzige Weg, tausende weitere Opfer von Wladimir Putin vor dem Tod zu bewahren.

Michał Kokot arbeitet im Auslandsressort der Gazeta Wyborcza und befasst sich dort mit Politik und Gesellschaft Mitteleuropas.

Der ungarische Aufstand als rhetorische Waffe

Zehntausende freiheitsliebende Lehrerinnen und Lehrer sowie Schüler und Studenten haben sich am Wochenende in Budapest versammelt, um den 66. Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956 zu feiern. Sie protestierten dabei gegen die Regierung und forderten bessere Löhne sowie eine Bildungsreform. Gleichzeitig drückten viele ihre Empörung darüber aus, wie die Orbán-Führung aktuell die Erinnerung an 1956 missbraucht.

In einem für viele schockierenden Statement erklärte der Ministerpräsident kürzlich, die Ungarn, die 1956 zu tausenden ihr Leben aufs Spiel gesetzt und auch verloren haben, hätten nicht für Freiheit oder Demokratie gekämpft, sondern um einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu erzwingen, die dann von den West- und Ostblöcken über ihre Köpfe hinweg geführt wurden.

Etwas Ähnliches wünscht sich Orbán auch für die Ukraine. Demnach sei es egal, was die Ukrainer selbst wollen: der Krieg könne nur durch Verhandlungen zwischen den USA und Russland beendet werden, so Orbán Mitte Oktober in Berlin.

Um sie so schnell wie möglich an den Verhandlungstisch zu bekommen, müssten diese beiden Parteien dazu gezwungen werden, erklärte er weiter. Ein großes Problem sei seiner Ansicht nach, dass Waffen aus dem Westen an die Front geliefert werden. Russische Waffen waren bei Orbán hingegen kein Thema. Er hofft offenbar auch auf eine US-amerikanische Abkehr von Kiew.

In der Orbán’schen Weltsicht ist es nicht Russland, das unter Druck gesetzt werden muss, sondern die angegriffene Ukraine. Im Kampf zwischen zwei politischen Systemen unterstützt Orbán damit die Autokratie. Derweil stellt eine Plakatkampagne seiner Regierung die EU-Sanktionen gegen Russland als Bomben dar, die auf Ungarn fallen.

Man könnte die Erinnerung an den Aufstand in Ungarn perfekt mit dem heutigen Kampf der Ukraine in Einklang bringen: Wie 1956 sind russische Panzer erneut in ein Land eingedrungen, das nach Freiheit und Demokratie strebt.

Im Gegensatz zu unserem Ministerpräsidenten – dessen politische Karriere damit begann, dass er sich erst 1989 gegen das sowjetische Imperium aussprach – haben viele Ungarinnen und Ungarn dies nicht vergessen.

Márton Gergely ist Chefredakteur des Wochenmagazins HVG aus Budapest..

Zahl der Woche: 0

In der vergangenen Woche haben 24 Abgeordnete der Regierungsparteien Grüne und FDP einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie verstärkte deutsche Initiative und gegebenenfalls eine „Restrukturierung“ der europäischen Waffenlieferungen an die Ukraine fordern.

Kein einziges Mitglied der SPD von Bundeskanzler Olaf Scholz trägt den Appell mit, obwohl der Parteivorsitzende Lars Klingbeil einen Tag zuvor Fehleinschätzungen der SPD in ihrer Russland-Politik der vergangenen Jahrzehnte so deutlich wie nie zuvor eingeräumt hatte.

Die Partei kämpft offensichtlich nach wie vor mit ihrer „Zeitenwende“ – der von Scholz am 27. Februar ausgerufenen Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.

Teresa Roelcke ist Journalistin beim Tagesspiegel aus Berlin. 

Die Ukraine unterstützen… und Frankreichs Rüstungsindustrie 

Als iranische Drohnen in ukrainische Städte einschlugen, kam man in Westeuropa zu einer Erkenntnis: Die Ukraine braucht einen wirksamen Luftabwehrschild, um ihre Bevölkerung vor derartigen Terrorangriffen zu schützen. Das wegen seiner bisher eher spärlichen militärischen Unterstützung für Kiew kritisierte Paris hat bereits Hilfe zugesagt. Am 12. Oktober kündigte Präsident Emmanuel Macron die Lieferung von „Radaranlagen, Flugabwehrsystemen und Raketen“ an, um die Ukrainer „vor Angriffen, insbesondere Drohnenangriffen, zu schützen“.

Nachdem sich die ukrainischen Streitkräfte also bereits mit den französischen Panzerhaubitzen vom Typ Caesar vertraut gemacht haben, müssen sie als nächstes den Umgang mit der in Frankreich hergestellten Flugabwehr-Raketenbatterie Crotale lernen. Die französische Regierung hat sich verpflichtet, Waffen dieses Typs innerhalb von zwei Monaten an die Ukraine zu liefern. Eine genaue Anzahl wurde zwar nicht genannt, aber sie dürfte eher gering sein: Die französische Armee verfügt selbst nur über zwölf Crotales.

Obwohl diese Flugabwehrsysteme im Krieg hilfreich sein dürften, werden sie nach Ansicht des Militärexperten Vincent Tourret nur sehr begrenzte Auswirkungen auf den Drohnenkampf haben: „Die Crotales sind eigentlich dazu gedacht, Flugzeuge oder Raketen abzuschießen. Sie könnten eher eingesetzt werden, um russische Sukhoï-Hubschrauber zu treffen oder Marschflugkörper kurz vor der Einschlagphase abzufangen. Es wäre jedenfalls nicht sehr kosteneffizient, sie gegen Drohnen einzusetzen. Angesichts ihrer Reichweite von nur vier Kilometern wären die deutschen Gepard-Flugabwehrpanzer dabei effektiver.“

Mit der Hilfe für die Ukraine will Paris allerdings auch seine eigene Rüstungsindustrie stärken. So wurde bereits ein Fonds in Höhe von 100 Millionen Euro eingerichtet, „aus dem die Ukrainer kaufen können, was sie wollen – vorausgesetzt, der Lieferant kommt aus Frankreich“, erklärte Verteidigungsminister Sebastien Lecornu dazu. Kiew hat Berichten zufolge bereits damit begonnen, den Fonds für den Kauf von motorisierten Pontonbrücken zu nutzen, die zur Flussüberquerung genutzt werden.

Die in Paris angestrebte Lösung hat allerdings einen bedeutsamen Haken: die Produktionszeit. Im Gegensatz zur Lieferung aus Armeebeständen ist der Herstellungsprozess neuer Waffen langwierig. Im Durchschnitt dauert es von der Bestellung bis zur Auslieferung einer 155-mm-Granate beispielsweise rund ein Jahr.

Nelly Didelot arbeitet im Auslandsressort von Libération in Paris. Sie befasst sich mit Mittel- und Osteuropa sowie mit Umweltthemen.

Danke, dass Sie die fünfte Ausgabe von European Focus gelesen haben!

Russlands Krieg gegen die Ukraine berührt alle Aspekte unseres aktuellen Alltags. Unweigerlich waren davon auch viele unserer bisherigen Newsletter beeinflusst. Jede Woche stehen wir erneut vor der schwierigen Entscheidung, ob wir den Krieg ausnahmsweise einmal ausblenden sollten oder nicht. Es bleibt zu hoffen, dass schon bald nicht nur in unserer gemeinsamen Lebensrealität, sondern auch in unserem Newsletter andere Töne zu vernehmen sein werden.

Bis nächste Woche! 

Alicia Alamillos

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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