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Gedenken an den Holocaust: Auschwitz und die letzten Zeugen
Das Grauen des Konzentrationslagers ist aufs Schrecklichste nahe und doch unendlich fern: Wie die deutsche Delegation am 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung gedenkt.
Stand:
Er könne „den Gestank und die Furcht nicht spüren“, wenn er heute in Auschwitz sei. Das sagt Pavel Taussig, 91 Jahre alt, Überlebender des Konzentrationslagers, an diesem Montagmorgen, an dem er gleich am Berliner Regierungsterminal in den Flieger von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steigen wird. „So etwas kann man nicht konservieren.“
Mit einer großen Delegation reist Deutschland zum Gedenken, achtzig Jahre nach der Befreiung. Sowohl der Bundespräsident mit seiner Ehefrau Elke Büdenbender als auch Kanzler Olaf Scholz mit seiner Ehefrau Britta Ernst vertreten die Bundesrepublik.
Schon das ist ungewöhnlich, doch die Delegation ist noch viel größer. Vizekanzler Robert Habeck, Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, Bundesratspräsidentin Anke Rehlinger sind nur einige der bekannten Namen auf der Liste.
Sie alle kommen wohl auch deshalb, weil sie wissen: Nicht mehr lange wird es Menschen geben, die an Tagen wie diesem Zeugnis ablegen können vom Schrecken von Auschwitz, weil sie ihn selbst erlebt haben.

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Mehr als hundert von ihnen waren es noch im Jahr 2020, als der 75. Jahrestag der Befreiung begangen wurde. Um die dreißig bis vierzig Überlebende wurden für heute erwartet, wie immer sollen sie und ihre Reden im Mittelpunkt des offiziellen Gedenkaktes am Nachmittag stehen. Wie viele tatsächlich noch die Kraft haben, diese schwere Reise in so hohem Alter anzutreten, stellt sich erst an diesem Tag endgültig heraus.
Pavel Taussig hat diese Kraft noch immer. Mit Sohn Jan und Enkelin Lea an seiner Seite ist er gekommen. Im früheren Lager gebe es heute Überreste, hatte er vor dem Abflug auch gesagt. „Es ist aber nicht vergleichbar mit dem, wie ich Auschwitz in Erinnerung habe.“
Kranzniederlegung an der Todeswand
Als die Delegation am Stammlager I eintrifft, scheint die Sonne hell und warm, als wolle der Himmel ihm Recht geben. Frühling liegt in der Luft. Zwischen den Backstein-Blöcken ist das, was geschah, aufs Schrecklichste nahe und doch unendlich fern. Beinahe friedlich sei die Stimmung, sagt ein Delegationsmitglied.
Eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte führt Steinmeier und Scholz umher. Was sagt sie den beiden, welche Fragen haben Bundespräsident und Kanzler? All die Menschen, die hinterherlaufen, erfahren es nicht.
Später geht es zur Kranzniederlegung an der Todeswand, wo einst Häftlinge durch Genickschuss ermordet wurden. Sechs Kränze sind schon aufgestellt. Ganz links in der Reihe steht einer, der aus roten, weißen und blauen Blumen gebunden ist. „From the People of the United States of America“ steht auf breiten Stoffbändern.
Dann kommen Steinmeier und Büdenbender. Sie stehen direkt neben dem Gebäude, wo einst die Vergasung an russischen Kriegsgefangenen getestet wurde, bevor die Todesmaschinerie in unvorstellbarer Dimension ausgebaut wurde.

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Habeck begrüßt Schleswig-Holsteins Kultusministerin Karin Prien herzlich, man kennt sich aus landespolitischen Zeiten. Ron Prosor, Botschafter Israels in Deutschland, und Finanzminister Jörg Kukies wechseln noch ein paar Worte. Dann reiht sich die Delegation am Rande des Platzes auf für einen langen Moment des Schweigens und der Erinnerung. Josef Schuster und Romani Rose als oberste Repräsentanten der Juden, Sinti und Roma in Deutschland sind dabei.
Auch Christian Pfeil ist als Gast des Bundespräsidenten angereist. Er ist Sinto, kam 1944 im Ghetto Lublin zur Welt. Er steht untergehakt mit Bundestagsvizepräsidentin Pau.
Später spricht Steinmeier zu den mitgereisten Journalistinnen und Journalisten. Auschwitz stehe für die Monstrosität eines beispiellosen Menschheitsverbrechens, sagt er. Für Tod, unfassbares Leid, Folter und Qualen. Für Erschießungen, Hungertod, Vernichtung durch Arbeit, Judenhass und Rassenwahn. Für den Zivilisationsbruch der Shoah.
„Erinnerung kennt keinen Schlussstrich“
Er erinnert daran, dass allein in Auschwitz mindestens 1,2 Millionen Menschen ermordet wurden, davon etwa 230.000 Kinder. „Und die Täter waren Deutsche.“
Was die Zeitzeugen zu sagen hätten sei von unschätzbarem Wert. „Aber es ist jetzt an uns, unseren Generationen, ihre Mahnung und ihre Erwartung an die nächsten Generationen weiterzureichen.“ Er sage als deutscher Bundespräsident: „Wir vergessen nicht.“
Verantwortung und Erinnerung dürften nicht blind sein für die Gegenwart. Auf deutschen Straßen und Plätzen, auch in Schulen und Hochschulen gebe es eine wachsende Zahl von antisemitischen Äußerungen, Schmierereien und Angriffen. „Erinnerung kennt keinen Schlussstrich. Und Verantwortung deshalb auch nicht.“
Zur Gegenwart gehört auch ein Elon Musk, der Deutschland auffordert, stolz zu sein. Der Fokus sei zu sehr auf die Schuld der Vergangenheit gerichtet, behauptet Musk. Was hat Steinmeier zu entgegnen?

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„Ich glaube nicht, dass Herr Musk auf meine Ratschläge wartet“, sagt Steinmeier. Was in Auschwitz und vielen anderen Lagern geschehen sei, sei „Teil unserer Identität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen“. Wer immer glaube, man könne jetzt einen Strich drunter machen: „Dem empfehle ich hierherzukommen und das Gespräch mit Überlebenden zu suchen.“
Der 27. Januar als Geburtstag
Das tun die Staatsoberhäupter, Könige, Regierungschefs der Welt später beim eigentlichen Gedenkakt. Steinmeier sitzt schräg hinter dem britischen König Charles, neben dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Dänemarks König Frederik, Spaniens Regent Felipe, Kanadas Premierminister Justin Trudeau und viele weitere sitzen im Publikum und hören, was die Überlebenden zu sagen haben.
Es spricht zum Beispiel Tova Friedman, die als kleines Mädchen Auschwitz überlebte. Ihr ganzes Leben lang habe den 27. Januar als ihren Geburtstag begangen, sagt sie. Viele ihrer Freunde hätten lange gar nicht gewusst, dass dies nicht tatsächlich ihr Geburtstag sei.
Sie erinnert an die Herausforderungen der Gegenwart: Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, kämpfe heute um seine Existenz und seine Lebensweise. „Wir beweinen nicht nur die gefallenen Soldaten und die Geiseln, sondern auch die Verwerfungen und das Misstrauen in unserer Gesellschaft.“
Es spricht auch Leon Weintraub, der in Auschwitz schon für die Vergasung vorgesehen war. Doch er mischte sich unbemerkt unter eine Gruppe für einen Gefangenentransport. Später, nach mehreren Verlegungen, konnte er sich retten, als der Zug, in dem er transportiert wurde, von einem Jagdbomber beschossen wurde. Er war an Typhus erkrankt und wog nur noch 35 Kilogramm.
Achtzig Jahre ist es her, noch immer kann Weintraub Zeugnis ablegen. Doch um die Erinnerung in die Zukunft zu tragen, wird es auf die Jugend ankommen.
Sinto Christian Pfeil, der mit Steinmeier angereist ist, hat am Morgen berichtet, wie er einmal in Auschwitz mit einer großen Gruppe von Jugendlichen gesprochen hat. Die hätten nur wenig gewusst, Fragen hätten sie auch kaum gehabt. Das ist es, was ihm Angst macht, achtzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.
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