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Grüne auf der Suche nach sich selbst: Wo bitte geht’s zur Mitte?
Die Grünen sind vom Liebling der Nation zum Paria geworden. Nun will die Parteispitze Stil und Kurs ändern. Dafür müsste sich die Partei aber einigen – auch auf Habeck.

Stand:
In Berlin und Brandenburg, aber auch im Süden der Republik, in Bayern und Baden-Württemberg, werden in diesen Tagen die Schulzeugnisse ausgestellt. Zeitlich passt es also, dass am Mittwochabend auch die Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour fünf Wochen nach dem Absturz bei der Europawahl Bilanz zogen.
Im vergangenen Jahr landeten die Grünen auf der Notenskala irgendwo zwischen mangelhaft und ungenügend. Das Heizungsgesetz verunsicherte breite Teile der Gesellschaft nachhaltig, ihr Versprechen einer Kindergrundsicherung konnten sie nicht halten, das Klimaschutzgesetz wurde aufgeweicht. Über die Reform einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik spaltete sich die Parteispitze, der Dauerstreit in der Ampel verschreckte die Bevölkerung.
Nur Binsenweisheiten aus dem Grünen-Stuhlkreis
Waren die Grünen vor ein paar Jahren noch der Klassenliebling, will sich heute niemand neben sie setzen. In Nachwahlbefragungen und der negativen Sonntagsfrage geben regelmäßig rund 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler an, dass sie die Grünen auf keinen Fall wählen könnten. Nur die AfD erreicht noch schlechtere Werte. Von „Kontaktschande“ spricht SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Die Stimmung ist gekippt, bis hin zu Beleidigungen und Gewalt.
11,9 Prozent lautete das ernüchternde Zeugnis der Wähler bei der Europawahl. Ein Absturz um 8,5 Prozent, bei Jungwählern gar um 20 Prozent. Eine umfassende Aufarbeitung haben Lang und Nouripour noch am Wahlabend angekündigt. Fünf Wochen später sind davon jedoch nur Binsenweisheiten aus dem Grünen-Stuhlkreis geblieben: „Wir machen Politik für ein Land, in dem die Dinge wieder funktionieren“, lautet eine Lehre. „Wir beschäftigen uns erst mit unseren eigenen Stärken“, lautet eine andere.
Es ist eine Aufarbeitung, die niemandem weh tut. Personelle Konsequenzen hat der Absturz der Grünen nicht, auch auf Schuldzuweisungen verzichtet die Parteiführung. Was die Grünen zuletzt wirklich falsch gemacht haben, wird in der Präsentation der Parteivorsitzenden nur gestreift.
Die Partei will weg von der „Politik des Imperativs“
Trotzdem bietet die Analyse eine Chance. Denn die Parteiführung will sich stilistisch verändern, um den gesellschaftlichen Ton wieder zu treffen. Weg von einer „Politik des Imperativs“, nennt es Lang. Die Partei solle den Menschen weniger sagen, was sie tun müssten und dafür mehr zuhören, beschreibt es Nouripour. Migration, Inflation, Krieg sind die Themen, bei denen die Parteispitze sich ernsthafter mit den Sorgen in der Bevölkerung, gerade auch der Jugend, beschäftigen will.
Wie all das praktisch umgesetzt werden soll, bleibt völlig unklar. Auch weil die Ausgangslage für die Grünen in Berlin, Brandenburg und Baden-Württemberg völlig unterschiedlich ist. Bei den Ostwahlen kämpfen die Grünen um ihr politisches Überleben, im Südwesten um das Erbe von Winfried Kretschmann und den Führungsanspruch für das Ländle. Fünf oder 25 Prozent? Strategisch ergeben sich daraus völlig unterschiedliche Fragen.
Es wird viel darauf ankommen, wie geeint die Grünen inhaltlich auftreten und sich hinter ihren Kanzlerkandidaten versammeln. Robert Habeck hat eine klare Vorstellung, wie er die Grünen in die Mitte der Gesellschaft bringen will. Doch dafür müsste die Partei bei Themen wie der inneren Sicherheit, gesellschaftspolitischen Vorstellungen, der Wirtschaftspolitik, der Bereitschaft zu Technologieoffenheit oder der Migrationspolitik lang gepflegte Positionen verlassen.
Zweifel an Habeck sind berechtigt
Daran denken große Teile der Partei aber überhaupt nicht. Die Programmatik war bei den Grünen schon immer umkämpfter als bei anderen Parteien, die machtorientierter handelten. Zudem gibt sich Habeck gerne als Brückenbauer in der Gesellschaft, doch in seiner eigenen Partei ist ihm das häufig nicht gelungen. Die Vorbehalte gegen einen starken Mann an der Spitze sind in der feministischen Partei groß.
Zweifel sind berechtigt. Mit seinem Heizungsgesetz hat er seine Glaubwürdigkeit selbst am stärksten beschädigt. Ein Projekt, das alle vermeintlichen Vorurteile gegen die Grünen – Bevormundung, Brechstange, Besserwisser – bestätigte. Auch die maue wirtschaftliche Lage liegt im Verantwortungsbereich eines Wirtschaftsministers. Und der Untersuchungsausschuss zum Atomausstieg, bei dem die Union Habeck in die Ideologie-Ecke treiben wird, birgt Gefahren und bringt schlechte Schlagzeilen.
„Pessimisten gewinnen keine Wahl“, lautet eine weitere Lehre der Grünen. Tatsächlich ist die Partei verunsichert und wirkt führungslos. Gemeinsam mit Habeck müssen Lang und Nouripour die Partei nun inhaltlich und personell vereinen und auf Kurs bringen. Sonst steht im nächsten Zeugnis: stets bemüht.
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