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Die Nato muss sich neu ausrichten.

© Reuters/Francois Lenoir

Hirntotes Bündnis?: Die Nato braucht eine neue Strategie

Heikle Themen werden im Verteidigungsbündnis weitgehend ignoriert, die Erneuerung aufgeschoben. Die Nato benötigt weitere Kernfunktionen. Ein Gastbeitrag.

Brigadegeneral a.D. Dr. Klaus Wittmann ist Senior Fellow des Aspen Institute Deutschland und lehrt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.

Präsident Macrons Beschreibung der Nato als „hirntot“ war gewiss misslungen. Aber sein kritischer Hinweis auf unzureichende Konsultation und Abstimmung im Bündnis war berechtigt. Das betrifft nicht allein die konkreten Anlässe, wie den unabgestimmten Rückzug von US-Truppen aus Nord-Syrien und die dortige Invasion durch die Türkei.

In der Nato gibt es seit jeher eine Debattenkultur, die viele heikle Themen ausspart. Über existenziell wichtige Fragen wie Irans Nuklearwaffenambitionen oder Chinas Aufstieg gab es im Nato-Rat bislang nie ernsthafte Konsultationen. Der Grund scheint eine zweifache Sorge zu sein: Uneinigkeit führe in der Öffentlichkeit zur Vermutung, die Nato stehe vor dem Auseinanderbrechen, oder die Befassung mit einer Region außerhalb des Nato-Territoriums rufe den Verdacht hervor, die Nato wolle dort militärisch eingreifen. Von solchen Hemmungen muss das Bündnis sich frei machen.

Die Kernfunktionen müssen erweitert werden

Es sollte „Konsultation“ zu einer neuen Kernfunktion der Nato erheben – neben den im strategischen Konzept von 2010 festgelegten drei Kernfunktionen kollektive Verteidigung, Krisenbewältigung und kooperative Sicherheit. Das wäre eine explizite Aufwertung und Aktivierung von Artikel 4 des Nato-Vertrags von Washington.

Bereits in der knappen „Londoner Erklärung“ der Staats- und Regierungschefs nach ihrem Treffen zum 70. Geburtstag der Nato im Dezember 2019 war zweimal von „Konsultation“ die Rede: Es wurde bekräftigt, dass die Nato das essenzielle Forum für Sicherheitskonsultationen und -entscheidungen ist. Und der Generalsekretär wurde beauftragt, den Vorschlag zu einem „vorwärtsgewandten Reflexionsprozess“ vorzulegen, durch den die „politische Dimension der Nato einschließlich der Konsultationen“ weiter gestärkt werden soll.

Das aktuelle Nato-Konzept ist zehn Jahre alt – aus der Zeit vor Russlands Annexion der Krim

Das ist eine abgemagerte Version des Vorschlags, den Präsident Macron und Außenminister Maas gemacht hatten. Sie wollten eine grundsätzlichere Strategiedebatte. So ist zu wünschen, dass der „Reflexionsprozess“ zu der Entscheidung führt, das strategische Konzept der Nato zu erneuern. Das ist das Grundlagendokument der Nato, das bislang etwa alle zehn Jahre als die maßgebende Konkretisierung des Nato-Vertrags beschlossen wurde.

Das derzeit gültige stammt von 2010 – lange vor der russischen Aggression gegen die Ukraine, welche die Nato „zurück in die Artikel- 5-Welt“, zur Frage um den Bündnisfall katapultiert hat. Mehr als zwei Jahrzehnte lang war das Pendel der Prioritäten von Nato und Streitkräften der Mitgliedsstaaten in Richtung Auslandseinsätze ausgeschlagen. Landes- und Bündnisverteidigung schien nicht mehr erforderlich zu sein.

2014 musste – angesichts der Besorgnisse besonders in Polen und im Baltikum – glaubwürdig demonstriert werden: Wenn die Nato schon dem Partner Ukraine nicht militärisch zu Hilfe kommen konnte, ist doch jeder Quadratmeter Nato-Gebiet für Russland tabu. Mit dem Gipfeltreffen von Wales 2014 begann die größte Umorientierung der Nato seit dem Fall der Berliner Mauer: erneut hin zur Landes- und Bündnisverteidigung.

Die Konsequenzen betrafen Aspekte wie Einsatzbereitschaft, Verstärkungsplanung, Übungstätigkeit, Führungswesen, Luftüberwachung – bis hin zur „verbesserten Vornepräsenz“ mit multinationalen Nato-Bataillonen in Polen, Estland, Lettland und Litauen.

Neue Gefährdungen müssen ins Auge gefasst werden

All dies und der neue Blick auf Russland ist im gültigen strategischen Konzept nicht reflektiert, und ebenso wenig die Entwicklung der letzten zehn Jahre hinsichtlich der Gefährdungen, etwa durch neue Waffentechnologie, Cyber-Bedrohungen, sicherheitsrelevante Folgen des Klimawandels, Militarisierung des Weltraums und die „hybride Kriegführung“.

Letztere ist kein ganz neues Phänomen, aber doch eine neuartige Herausforderung: eine Methode, die offene und verdeckte militärische und nicht-militärische Mittel verbindet und die gemeinsame Antworten durch das Bündnis ernsthaft erschweren kann (und soll). Im Ukraine-Konflikt demonstrierte Russland die nahtlose Orchestrierung militärischer und nicht-militärischer Instrumente: militärische Drohkulisse jenseits der ukrainischen Grenze, Einsatz paramilitärischer Einheiten ohne Hoheitsabzeichen, Cyberangriffe gegen ukrainische Infrastruktur und die Unterstützung der „Separatisten“ mit militärischem Gerät.

Den genannten Bedrohungen soll zunehmend mit der Stärkung der „Resilienz“ von Gesellschaften, militärischen Strukturen und kritischer Infrastruktur begegnet werden. Mit diesem der Psychologie entlehnten Schlagwort sind Widerstandsfähigkeit und flexible Reaktionsfähigkeit gemeint. Diese Aufgabe der Nato ist so entscheidend wichtig, dass sie ebenfalls als zusätzliche Kernfunktion in ein neues strategisches Konzept aufgenommen werden sollte.

Warum ist man noch nicht dabei, ein neues strategisches Konzept zu entwerfen? Wie vor über zehn Jahren gibt es die Befürchtung, diese Arbeit werde ein „entzweiender Prozess“ sein. Zweitens will man wohl während Trumps Präsidentschaft eine Debatte über die politisch-strategischen Grundlagen der Nato vermeiden. Auf der militärischen Seite des Hauptquartiers in Verantwortung des Militärausschusses wurde wenigstens das militärstrategische Grundsatzdokument MC 400 neu gefasst.

Dabei kann es aber nicht bleiben, nicht zuletzt weil dieses Dokument „Nato-vertraulich“ eingestuft ist. Mit der seinerzeitigen Entscheidung, das strategische Konzept von 1991 zu veröffentlichen, entschied sich die Nato für Transparenz und Vertrauensbildung gegenüber der Öffentlichkeit. Sie ist es der Welt schuldig, ihre Existenzberechtigung, die Bedrohungen und die erforderlichen Fähigkeiten unter den seit 2010 veränderten Umständen offenzulegen.

Das Bündnis steckt nicht in einer Identitätskrise

Es ist Zeit für ein neues strategisches Konzept für die transatlantische Allianz. Damit sollte auch dem unsinnigen Gerede über eine „Identitätskrise“ der Nato entgegengewirkt werden. Das neue strategische Konzept muss die veränderten Verhältnisse auf sicherheitspolitischem Gebiet analysieren, das Zusammenwirken von Institutionen und Akteuren darstellen sowie die fortdauernde Wichtigkeit der transatlantischen Verbindung und die wachsende Verantwortung Europas für seine eigene Sicherheit überzeugend erklären.

„Konsultation“ und „Resilienz(entwicklung)“ sollten endlich als Kernfunktionen begriffen werden. Auch muss ein neues strategisches Konzept die Rolle des „europäischen Pfeilers“ in der Nato konkretisieren, auf der Grundlage der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ der EU, die nur komplementär, nicht konkurrierend, zur Nato erfolgreich sein kann.

Auch der Herausforderung durch China und Russlands Platz in der europäischen Sicherheitsordnung sollte sich das strategische Konzept widmen – unter der Voraussetzung, dass Russland die Verletzung der für diese vereinbarten Regeln beendet. Das Dialogangebot der Nato auf der Basis der Harmel-Philosophie (Verteidigung und Entspannung, Festigkeit und Gesprächsbereitschaft) sollte dabei konkretisiert werden.

Klaus Wittmann

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