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Papst Franziskus wäscht Flüchtlingen in einem Lager die Füße.

© DPA

Religion und Bundestagswahl: Kirche = konservativ = Union – das stimmt längst nicht mehr

Schöpfung bewahren, Flüchtlinge aufnehmen, Hunger und Armut bekämpfen, Kapitalismus abschaffen: Christen und Grüne sind sich sehr nahe gekommen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Er ist gläubig, ein Katholik und Kanzlerkandidat der Union. Als Armin Laschet vor zwei Wochen in einer ZDF-Sendung von der Moderatorin Bettina Schausten gefragt wurde, wie er zur Ehe für alle stehe, antwortete er: „Ich hätte dafür gestimmt.“ Die Abstimmung im Bundestag war vor vier Jahren, Laschet war damals kein Mitglied des Bundestages, hatte sich in Interviews aber gegen die Ehe für alle ausgesprochen. Deshalb verwunderte seine Antwort.

Was in der Verwunderung unterging, war die Entschiedenheit, mit der Laschet sich zur Ehe für alle bekannte. Er sandte das Signal aus, dass zwischen einerseits Katholizismus und andererseits liberaler Familienpolitik und Sexualmoral kein Widerspruch bestehen muss. Das Risiko, jene konservativen Katholiken zu verprellen, deren Loyalität zu den Unionsparteien lange Zeit legendär war, ging er bewusst ein. Oder stimmt etwas mit dieser Legende nicht?

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„Augen zu, CDU“, hieß die Devise einst in konservativ-christlichen Kreisen. Bis zur letzten Bundestagswahl 2017 galt: Je höher die Kirchgangshäufigkeit, desto höher die Neigung, für die Union zu stimmen. Das ergab eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung vom September 2020. Sie heißt „Religiosität und Wahlverhalten – eine repräsentative Untersuchung“.

"Von leidenden Kinderaugen erpressen lassen"

Allerdings schwächt sich die Korrelation offenbar in dem Maße ab, wie kirchliche Rituale in der Gesellschaft insgesamt an Bedeutung verlieren. Hinzu kommt: Bei politischen Großthemen wie Klimawandel, Flüchtlinge, menschliche Würde, Kapitalismus gibt es inzwischen ein hohes Maß an Übereinstimmung von offizieller katholischer Lehre mit Positionen, die traditionell eher im linksliberalen Spektrum verortet werden.

Als der ehemalige Arbeitsminister und engagierte  Katholik Norbert Blüm, der vor einem Jahr starb, das griechische Flüchtlingslager Idomeni besuchte, sagte er: „Wenn Europa noch etwas mit dem Christentum zu tun hat, dann muss es sich von leidenden Kinderaugen erpressen lassen.“

Die wichtigsten Tagesspiegel-Artikel zur Bundestagswahl 2021:

Das schreibt Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato Si“ aus dem Jahr 2015: „Der Rhythmus des Konsums, der Verschwendung und der Veränderung der Umwelt hat die Kapazität des Planeten derart überschritten, dass der gegenwärtige Lebensstil, da er unhaltbar ist, nur in Katastrophen enden kann, wie es bereits periodisch in verschiedenen Regionen geschieht.“ Zwei Jahre zuvor hieß es im Schreiben „Evangelii gaudium“: „Diese Wirtschaft tötet.“

"Das Stöhnen der Schwester Erde"

Papst Franziskus hat schon früh in seiner Amtszeit Kapitalismus- mit Technikkritik verbunden, die Ökologie mit dem Sozialen, den Kampf gegen den Klimawandel mit dem Kampf gegen Armut und Hunger. „Das Stöhnen der Schwester Erde schließt sich dem Stöhnen der Verlassenen der Welt an.“ Das klingt wenig konservativ, aber es könnte das Wesen des Konservativen verwandeln.

[Ein Interview mit Klimaaktivistin Greta Thunberg können Abonnenten von T+ hier lesen: „Wir werden immer noch politisch betrogen“]

Wenn nun Laschet, der fromme Katholik, energisch die Ehe für alle verteidigt, liegt er damit nicht nur im gesamtgesellschaftlichen Trend, sondern grenzt sich auch demonstrativ von jenem unionsgetreuen konservativ-katholischen Restmilieu ab, das Dogmen wichtiger nimmt als Fragen der Selbstbestimmung. Die Gleichung katholisch=konservativ=Union-wählen stimmt jedenfalls so nicht mehr.

Im Jahr 2018 veröffentliche die Deutsche Bischofskonferenz unter der Überschrift „Schöpfungsverantwortung als kirchlicher Auftrag“ Handlungsempfehlungen zu Ökologie und nachhaltiger Entwicklung. Gefordert wird, die Verantwortung für die Schöpfung in Gottesdiensten zu thematisieren, angemahnt werden ein nachhaltiges Wirtschaften und ein umweltverträgliches Gebäudemanagement.

Leitbild einer gerechten Verteilung von Gütern

Noch enger – sowohl inhaltlich als auch personell - sind die Bande zwischen der evangelischen Kirche und den Grünen geknüpft. In der Friedensbewegung zogen sie an einem Strang, in der Antiatomkraftbewegung, in der Flüchtlingskrise, im Kampf gegen den Klimawandel, bei der Bio-Ethik. Die Fairtrade-Initiativen der Kirchen - anfangs „Dritte-Welt-Läden“ genannt, jetzt „Eine-Welt-Läden“ – orientieren sich am Leitbild einer gerechten Verteilung von Gütern, die „Mutter Erde“ den Menschen schenkt.

Vor einem Monat veröffentlichten die Grünen einen Wahlkampfspot, in dem sie das Volkslied „Kein schöner Land“ aus dem Jahr 1840 umgedichtet hatten. Nicht nur der „Spiegel“ fühlte sich an protestantische Kirchentage erinnert und beschrieb das Video als eine „clevere Verschränkung von zartem Patriotismus und sektenhaftem Zugehörigkeitsgesäusel“. In der Tat lassen sich evangelische Kirchentage und Parteitage der Grünen kaum voneinander unterscheiden.

Umwelt und Bürgerrechte - zwei identitätsstiftende Themen

Nach dem Fall der Mauer ergänzten die Grünen ihren Namen durch „Bündnis 90“, um Mitgliedern der Bürgerrechtsbewegung der ehemaligen DDR eine politische Heimat zu geben. Nicht alle nahmen das Angebot an, aber viele von ihnen waren kirchenaffin. Darunter Marianne Birthler, Rainer Eppelmann, Joachim Gauck, Friedrich Schorlemmer, Richard Schröder, Wolfgang Thierse. Seitdem ist der Themenkomplex Umwelt und Bürgerrechte für Grüne wie für evangelische Christen gleichermaßen identitätsstiftend.

Ob Laschet daran dachte, als er im ZDF die Ehe für alle lobte? Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht hat er es gespürt.  

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