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„Man hat noch immer die Merkel-Ära im Kopf“: Das waren die wichtigsten Aussagen des Tagesspiegel-Expertentalks zur Bundestagswahl
Wie kam es zum Ergebnis der Bundestagswahl, und was bedeutet es für die Zusammensetzung und Politik einer neuen Bundesregierung? Das diskutierten die Tagesspiegel-Experten beim „High Noon“-Talk.
Stand:
Am Tag nach der Bundestagswahl haben Politikwissenschaftler im Tagesspiegel-Expertentalk „High Noon“ die Wahlergebnisse analysiert und über mögliche Folgen für die anstehende Regierungsbildung gesprochen.
Es ging um das Abschneiden der Union, die mit unter 30 Prozent deutlich schlechter ins Ziel kam als von manchen in der Partei erhofft. Ein großes Thema war auch der Aufstieg der AfD, die ihre Stimmenzahl im Vergleich zur vergangenen Bundestagswahl verdoppelte. Folgende Fragen wurden behandelt:
Was beflügelt die AfD?
Bei dieser Bundestagswahl lag die Wahlbeteiligung mit 84 Prozent so hoch wie seit der Wiedervereinigung 1990 nicht mehr. „Eine hohe Wahlbeteiligung ist immer gut für die Demokratie“, betont Gefjon Off, Politikwissenschaftlerin an der Leuphana Universität Lüneburg. Allerdings hätten diesmal populistische Parteien „mit am meisten mobilisiert“, vor allem bei Nichtwählern.
Im sozialdemokratisch geprägten Ruhrgebiet gelang es der AfD beispielsweise, auch in Städten gut abzuschneiden, ebenso wie im Großteil von Ostdeutschland. Urbane Räume assoziiere man in der Regel nicht mit einem hohen Wahlergebnis für die Rechtsaußen-Partei, sagt Stefan Marschall, Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Es wäre falsch zu sagen, die Medien sind schuld.
Christian Tretbar, Chefredakteur des Tagesspiegels, zur Rolle der Medien mit Blick auf den Aufstieg der AfD
Es gebe allerdings auch urbane Regionen wie das Ruhrgebiet, in denen teilweise wenig Wohlstand existiere und soziale Sicherheit fehle, bemerkt Marschall. In Gelsenkirchen gelang es der AfD beispielsweise, fast 25 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen.
Ein weiterer Erfolgsfaktor für die AfD sei, dass die CDU im Osten nicht mehr durchdringe, sagt Tagesspiegel-Chefredakteur Christian Tretbar. Vor allem dort fühlten sich die Menschen durch die AfD „mittlerweile gut politisch repräsentiert“, erklärt Janek Treiber, Politikwissenschaftler an der TU Dresden.
Lassen sich AfD-Wähler zurückholen?
AfD-Wähler zurückzuholen, „muss der Anspruch jeder politischen, jeder demokratischen Partei sein“, betont Tretbar. Doch dafür müsse die Politik konkrete inhaltliche Angebote machen. Warnungen vor der AfD reichten nicht aus.
Es gebe wenige konkrete Beispiele, aus denen man lernen könne, wie sich AfD-Wähler zurückgewinnen ließen, merkt Gefjon Off an. „Man weiß vor allem, was man nicht tun sollte“, sagt sie. Nämlich ihren Diskurs zu kopieren. Das zeige die Wählerwanderung. Denn die stärkste Bewegung habe es von der CDU zur AfD gegeben.
Dass auch die Medien einen Beitrag zum Aufstieg der Union geleistet haben, „davon können wir uns nicht freimachen“, sagt Tagesspiegel-Chefredakteur Tretbar. Er hält dennoch fest: „Es wäre falsch zu sagen, die Medien sind schuld.“ Das Problem sei eher, dass sich die Kernklientel der Partei nicht mehr auf klassische Medien verlasse.
CDU bleibt hinter eigenen Hoffnungen zurück
Die Union sei nicht unbedingt als Alternative zur Ampel wahrgenommen worden, erklärt Stefan Marschall, Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, mit Blick auf das vergleichsweise schlechte Abschneiden für die Union. Sie landete laut vorläufigem Endergebnis bei 28,5 Prozent.
Der CDU und der CSU werde zudem mehrheitlich die Verantwortung für die Zuwanderung nach Deutschland angelastet. „Man hat noch immer die Merkel-Ära im Kopf“, resümiert Marschall. Eine Abgrenzung von dieser „Erblast“ sei den beiden Parteien nicht vollends gelungen.
Darüber hinaus sieht Marschall den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz nicht als „Zugpferd“ im Wahlkampf: „Er hatte keine Strahlkraft, die über die eigenen Wählerinnen und Wähler hinausging.“
Junge Wähler wandern nach links und rechts
Bei der Bundestagswahl wählten Bürger im Alter von 18 bis 24 Jahren überwiegend die Linke (27 Prozent) und die AfD (21 Prozent). Gefjon Off hat eine Erklärung dafür: „Auch die jungen Leute sind enttäuscht von der Ampel-Regierung.“
Grüne und FDP hätten 2021 einen deutlich mehr auf die Belange junger Menschen zugeschnittenen Wahlkampf geführt, etwa mit den Themen Klimaschutz und Digitalisierung. Damit konnten sie Erstwähler für sich gewinnen. „Das ist nicht so sehr passiert in diesem Wahlkampf“, resümiert Off. Stattdessen sei viel auf Social Media gesetzt worden.
Auch die jungen Leute sind enttäuscht von der Ampel-Regierung.
Gefjon Off, Politikwissenschaftlerin an der Leuphana Universität Lüneburg
Man dürfe nicht unterschätzen, wie wichtig soziale Sicherheit auch für jüngere Altersgruppen sei: „Auch junge Menschen kämpfen sehr stark gegen steigende Mieten an“, sagt die Politikwissenschaftlerin.
Bei dieser Wahl zeige sich erneut der Gender-Gap zwischen Männern und Frauen. Während junge Männer nach rechts tendierten, wählten viele junge Frauen im urbanen Raum „weit links“. Im europäischen Raum dürfe man das jedoch nicht überdramatisieren, sagt Off.
Linke erfolgreich, BSW knapp gescheitert
Politikwissenschaftler Janek Treiber sieht für den Überraschungserfolg der Linken mehrere Gründe. Zum einen habe die Linke es geschafft, in Ostdeutschland viele Direktmandate zu gewinnen, darunter vier in Berlin. Zugleich sei das Personaltableau der Partei divers gewesen, erklärt er. Shooting-Star Heidi Reichinnek sei nicht zufällig in den sozialen Medien erfolgreich gewesen: „Sehen Sie auch den Kontrast mit Friedrich Merz, dem älteren Herren.“
Mit Blick auf den historischen Erfolg der Linken in Berlin erklärt Christian Tretbar, dass die Hauptstadt, ebenso wie Leipzig, eine Insel in Ostdeutschland sei: „Das ist ein klares Großstadtphänomen.“ Anders als 2021 sei Berlin nun beim Wahlergebnis wieder in Ost und West statt in Ring und Randbezirke aufgeteilt.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) sei wie ein Fall aus dem Politikwissenschafts-Lehrbuch, erklärt Treiber: Wegen der Zentrierung auf eine Person sei der Partei ein kurzfristiger Erfolg gelungen. Auf Dauer stürze sie aber ab, „wie ein Papierflugzeug“.
Was heißt das alles für die Koalitionsverhandlungen?
„Die Merz-Union ist eine andere als die Merkel-Union“, sagt Politikwissenschaftler Marschall. Es werde nicht leicht für SPD und Union, wieder zueinander zu finden. Eine Koalition der beiden Parteien ist jedoch die wahrscheinlichste Option. Es gebe dort Klarheit, dass man unter „erheblichem Erfolgsdruck“ stehe, so Marschall.
Auch Janek Treiber hält fest: „Es dürfte mehr Reibungspunkte geben als vor einigen Jahren.“ Gleichzeitig könne man nicht mehr davon sprechen, dass CDU und SPD nicht unterscheidbar seien, wie es während der Regierungszeit Angela Merkels teilweise kritisiert wurde.
Ein klassischer Koalitionsvertrag, der die Regierungsprojekte für die nächsten vier Jahre festhält, sei diesmal keine gute Idee, sagt Christian Tretbar. Internationale Ereignisse wie die Drohungen des amerikanischen Präsidenten Donald Trump könnten jede langfristige Planung umwälzen. Die neue Regierung brauche wenige klare Leitlinien, diese aber sehr schnell.
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