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Eine Covid-19-Patientin wird auf einer Berliner Intensivstation betreut.

© Kay Nietfeld/dpa

Richtwert erstmals seit fast einem Jahr unter 5: Mediziner sprechen sich für Abkehr von der Inzidenz aus

Noch ist unklar, wie sich die Delta-Variante in Deutschland auswirken wird. Die Inzidenz rückt als Gradmesser für das Infektionsgeschehen aber aus dem Fokus.

Die Sieben-Tage-Inzidenz ist in der Pandemie die magische Zahl in Deutschland, von dem Wert der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche hängen die Auflagen ab, die den Alltag bestimmen und das Leben einschränken.

Zwar meldete das Robert Koch-Institut (RKI) am Samstag mit 671 im Vergleich zur Vorwoche (592) wieder steigende Fallzahlen. Allerdings sinkt die Inzidenz aktuell noch weiter, erstmals seit elf Monaten unter 5 (4,9) im bundesweiten Schnitt. Zuletzt hatte der Wert am 30. Juli 2020 mit 4,8 unter der 5er-Schwelle gelegen.

Dennoch geht eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht davon aus, dass die Pandemie vorüber ist. Im Gegenteil: Dem ARD-Deutschlandtrend zufolge haben 62 Prozent der Befragten sehr große oder große Sorge, dass die Ansteckungszahlen in den kommenden Wochen wieder steigen könnten.

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64 Prozent zeigen sich wegen neuer Mutanten des Virus – wie der rund 60 Prozent ansteckenderen Delta-Variante – besorgt. Und 46 Prozent befürchten gar, dass die Freiheitsrechte längerfristig eingeschränkt bleiben könnten. Ob es in einer möglichen vierten Welle dazu kommt, wird vom Verlauf der nächsten Wochen abhängen.

Delta-Variante des Coronavirus breitet sich aus

Die Delta-Variante, die unter anderem in Großbritannien und Portugal die Zahl der Neuinfektionen in die Höhe schießen lässt, breitet sich auch in Deutschland immer weiter aus. Nach Einschätzung des RKI erfolgt bereits jede zweite Infektion mit dieser Variante – bei derzeit allerdings noch geringen absoluten Zahlen. Und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) unterstich am Freitag, dass es gelingen müsse, diese auch gering zu halten.

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Bereits jetzt scheint aber klar, dass die Sieben-Tage-Inzidenz bei der Bewertung des Infektionsgeschehens immer mehr an Bedeutung verlieren wird. So sprechen sich beispielsweise Intensivmediziner dafür aus, bei der Pandemiebekämpfung nicht mehr ausschließlich diese Zahlen in den Fokus zu stellen.

„Mit steigender Impfquote ist der Inzidenzwert alleine weniger aussagekräftig, um die potenzielle Gefahr für das Gesundheitssystem messen zu können“, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), Christian Karagiannidis, der „Rheinischen Post“. „Wir rechnen damit, dass die Inzidenzwerte im Herbst, wie in England aktuell schon der Fall, stärker steigen werden als die Zahl der Intensivpatienten.“

Auch der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, dringt auf eine Erweiterung des Inzidenzkriteriums. Die Sieben-Tage-Inzidenz sei als alleiniger Parameter untauglich, sagt Gassen dem „Spiegel“.

Parameter wie Klinikeinlieferungen werden wichtiger

„Es müssen darüber hinaus auch Krankenhausbelegungen, Altersverteilungen, Intensivbelegung, Regionalität und ähnliche Parameter einbezogen werden.“ Die Daten müssten dringend erhoben und ausgewertet werden, um eine angemessene Reaktion auf steigende Infektionszahlen zu ermöglichen. Pauschale Lockdowns seien ein eher untaugliches Mittel, so Gassen.

Wolfgang Kohnen, Hygieniker der Unimedizin Mainz, ist ebenfalls der Ansicht, dass sich die Politik neu orientieren müsse. „Eine höhere Inzidenz bedeutet jetzt nicht mehr gleichzeitig eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems“, sagte er am Freitag bei einer Pressekonferenz in Mainz, berichtet der „Merkurist“.

Anders als vor einem Jahr seien jetzt viele Menschen bereits durchgeimpft und damit vor einem schweren Verlauf und einem Krankenhausbesuch geschützt. Selbst die Delta-Variante führe bisher nicht zu einem Anstieg schwerer Fälle.

Inzidenz bleibt als Frühwarnsystem wichtig

Der Mainzer Virologe Bodo Plachter ergänzte: „Wir müssen jetzt langsam von der Inzidenz wegkommen und stattdessen schauen, was für eine Konsequenz die Infektionsrate für uns alle hat.“ Die Inzidenz bleibe als Frühwarnsystem wichtig, „aber wir werden sie künftig stärker in Relation zur Situation in den Krankenhäusern setzen müssen“.

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Bei den politisch Verantwortlichen sin diese Botschaften offenbar angekommen. Kanzleramtschef Helge Braun (CDU), selbst auch ausgebildeter Mediziner, sagte am Freitag: Die Inzidenzwerte würden weiter eine wichtige Rolle spielen, „weil sie natürlich eine Aussage darüber treffen, wie viele Leute sich neu mit Corona infizieren“, sagte er.

„Aber wenn wir jetzt in der Situation sind, dass eine hohe Zahl von Bürgern geimpft ist, müssen wir natürlich weitere Faktoren einbeziehen.“ Ganz wichtig sei die Frage, wie gut die Impfung gegen neue Varianten wie Delta wirke. Auch Braun sagte, das Thema Krankenhausaufnahmen würde in der Statistik in Zukunft stärker in den Mittelpunkt gestellt werden.

Impfungen machen den Unterschied aus

Auch Spahn sagte am Freitag, es sei wichtig nun die klinischen Daten stärker zu berücksichtigen. Es gehe um die Frage, wie viele Patienten mit Covid-19 behandelt werden müssten und so zu „einem noch besseren Überblick zu kommen auch über die Intensivstationen hinaus, um dann auch für Herbst und Winter noch bessere Parameter zu haben“. Die Inzidenz an sich an sich werde, „mit fortschreitender Impfkampagne natürlich immer weniger aussagekräftig“, sagte der Gesundheitsminister.

Bundesminister für Gesundheit: Jens Spahn (CDU).
Bundesminister für Gesundheit: Jens Spahn (CDU).

© Imago Images/Metodi Popow

Aus Sicht von Experten ist es noch zu früh, um einzuschätzen, wie sich die Lage mit der Delta-Variante entwickeln wird. „Wir haben noch nicht genügend Daten, um wirklich klar zu sagen, wie gefährlich oder ungefährlich (...) sie ist“, hatte RKI-Präsident Lothar Wieler am Freitag vor einer Woche in Berlin erklärt.

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Allerdings deuteten die noch jungen Zahlen aus dem deutschen Meldewesen auf eine rund doppelt so hohe Rate von Krankenhauseinweisungen hin verglichen mit der bislang dominierenden Alpha-Variante. Wieler sagte, es würden demnach elf Prozent der Delta-Infizierten in Kliniken behandelt, verglichen mit fünf Prozent bei Alpha. Bei Menschen zwischen 15 und 34 Jahren sei dies besonders ausgeprägt. Fallzahlen nannte Wieler nicht.

Noch gibt es zu wenig Daten zur Delta-Variante

Den Daten zufolge komme Delta eher bei jüngeren Menschen vor, also in Gruppen mit geringeren Impfquoten, ergänzte er. Auch bisherige Daten aus dem Vereinten Königreich sprächen nicht für eine mutmaßlich geringere Gefährlichkeit der Delta-Mutante, so der RKI-Chef.

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Der Leiter der Forschungsgruppe für Infektionsimmunologie und Impfstoff-Forschung der Berliner Charité, Leif Erik Sander, ergänzte, man könne nicht sagen, es handle sich um eine harmlosere Variante. Die Hoffnung sei, dass die Ansteckungen immer weiter aus den sehr anfälligen Gruppen herausgehalten werden könnten und dadurch weniger Menschen daran sterben.

Aktuell sehr wenig neue Covid-Intensivpatienten

Auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) teilte nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa zu diesem Zeitpunkt mit, noch keine Erkenntnisse zur Krankheitsschwere durch die Delta-Variante zu haben: „Weiterhin sinkt die Zahl der Covid-19-Erkrankten deutlich, und sind wir uns sehr sicher, dass die Impfungen auch gegen schwere Verläufe der Delta-Variante schützen.

Divi-Präsident Gernot Marx sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe am Donnerstag zur aktuellen Situation: „Die allermeisten der rund 600 Covid-Patienten auf den Intensivstationen sind Langzeitpatienten. In Einzelfällen kommt es auch noch zu Neuaufnahmen, doch viele sind bereits seit Monaten in intensivmedizinischer Behandlung.“ Es handele sich größtenteils um Patienten, die sich in der dritten Welle im Frühjahr angesteckt hätten, sagte Marx.

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