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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrer Regierungserklärung

© dpa/Michael Kappeler

Kanzlerin nach „Oster-Kotau“ im Bundestag: Merkels neuer Ton und das „Gift der Wut“

Nach dem Oster-Debakel kritisiert Angela Merkel die Dauer-Nörgler im Land. Allen ist aber klar, dass die deutsche Corona-Politik an einem Wendepunkt steht.

Wolfgang Schäuble ist ein Meister der subtilen Botschaften. Der Gong zum Sitzungsbeginn ertönt, alle warten, was die Kanzlerin an Tag 1 nach ihrem Oster-Rückzieher und ihrem "Mea Culpa" zu sagen hat.

Der Bundestagspräsident erinnert jedoch erst einmal an den ersten deutschen Reichstag, der sich vor 150 Jahren konstituierte. Schon damals sei leidenschaftlich über das Impfen debattiert worden. „Wegen Pocken“, sagt der CDU-Politiker Schäuble.

Bis heute gelte: „Die Stärke des Parlaments muss sich in der Praxis beweisen. Im selbstbewussten Handeln – auch und gerade in Zeiten, die als Stunde der Exekutive gelten“, sagt Schäuble. „Das Parlament bestimmt den Rahmen, in dem die Regierungen handeln – und nicht die Exekutive die Bedingungen, unter denen das Parlament debattiert.“

Kanzlerin Angela Merkel geht nochmal ihre Rede durch, blickt kurz auf. Sie wird diese Mahnungen an diesem Tag zu mehr Beratung der Corona-Maßnahmen mit dem Parlament noch öfter hören.

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Eigentlich soll es um eine regulär geplante Regierungserklärung zum EU-Gipfel gehen, aber das gerät zur Nebensache. FDP-Chef Christian Lindner wird Merkel später vorwerfen, ihr Rezept zur Brechung von Widerständen bei nächtlichen EU-Gipfeln in die Corona-Verhandlungen hereingetragen und damit Schaden angerichtet zu haben.

Merkels Methode war bisher, irgendwie Kompromisse zu finden, einen Mittelweg – gerne spätnachts, wenn alle nur noch ins Bett wollen.

Licht und Schatten: Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt im Bundestag ihre Corona-Wende.
Licht und Schatten: Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt im Bundestag ihre Corona-Wende.

© dpa/Kay Nietfeld

Sie hat das Osterruhe-Debakel auf ihre Kappe genommen, aber alle hatten es mitgetragen. Das nächtliche Entscheiden im kleinen Kreis, ohne ausreichende Rückkopplung mit Experten, funktioniert in einer komplexen Pandemie nur bedingt. Und es zeigt sich, wie wichtig der zwischenmenschliche Kontakt ist, der Austausch, die Debatte, dieses virtuelle Verhandeln kommt hier eindeutig an Grenzen.

[Zum Chaos um die Osterruhe und die Entschuldigung der Kanzlerin können Abonnenten von T+ hier mehr lesen: Der Tag, der Merkel verändern wird – eine Rekonstruktion]

Merkel soll ihre Vorschläge für eine Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) künftig vorab in einer Regierungserklärung darlegen, um im Parlament alles zu diskutieren, fordert Lindner. Nun ist die nächste am 12. April, einem Montag, davor tagt der Bundestag gar nicht. Debatte sei ein „Instrument der Qualitätssicherung“. Und all die intransparenten Entscheidungsprozesse seien eine „Einladung zur Vetternwirtschaft“, fügt Lindner mit Blick auf die Korruptionsaffären in der Union um Schutzmasken hinzu.

Mal fällt Sonnenlicht auf Merkel durch die Reichstagskuppel, dann steht sie wieder im Schatten. Dieser Tag bringt dreierlei Erkenntnis: Die Entscheidungsprozesse müssen verbessert werden. Es soll mehr „Freiheiten“ bei den Maßnahmen geben. Und der Kampf gegen ein ganz anderes Virus verstärkt werden.

Wollen noch mehr Schnelltests organisieren: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Kanzlerin Merkel.
Wollen noch mehr Schnelltests organisieren: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Kanzlerin Merkel.

© imago images/Christian Thiel

Merkel hat genug vom Dauer-Nörgeln

Es ist viel Vertrauen zerbrochen, Merkel hat wenige Monate noch, um das Bild zu verbessern, vor allem muss sie all die Mängel in den Griff bekommen, zusammen mit den Ländern. Aber sie ist auch genervt von der Untergangsstimmung im Land. „Es ist zurzeit eine Stimmung, bei der wir nur das Kritische sehen“, sagt sie in ihrer Regierungserklärung.

Es gebe Millionen Menschen, die sich jeden Tag beherzt gegen die Pandemie stemmten, angefangen in Impfzentren und Intensivstationen. Man könne nichts erreichen, wenn man nur das Negative sehe. „Wenn das Glas immer nur halbleer ist, dann werden wir keine kreative Kraft als Land entwickeln.“ Es ist auch der Versuch einer Ruck-Rede an das eigene Lager. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob und wie stark Merkels Autorität gelitten hat.

Merkel spürt, dass es so wie bisher nicht weiter geht, vielleicht liegt in der Krise und dem Versuch eines Neuanfangs auch eine Chance.

Es ist hier plötzlich eine veränderte Kanzlerin und eine andere Tonlage zu erleben. Nach dem Motto: Ich habe verstanden. Sie betont auf einmal etwas, was sie zunächst so nicht wollte: Kreative Öffnungskonzepte, es sei angesichts der unterschiedlichen Infektionszahlen „ein viel höheres Maß an Regionalisierung“ möglich.

Und es gebe nun mehr Schnell- und Selbsttests. Aber sie habe Gesundheitsminister Jens Spahn aufgefordert, noch mehr Marktanteile zu sichern. Sie räumt den Fehler ein, dass man sich zu wenig um die eigene Impfstoffproduktion in Europa gekümmert hat; Merkel fordert, dass diese nun in der EU rasant ausgebaut werden muss – die Kanzlerin gibt zu, dass Großbritannien und die USA da besser waren.

Mehr Lockerung wagen - und eine Pflicht für Reiserückkehrer

Bisher klafften zwischen der Theorie der Beschlüsse und der praktischen Umsetzung oft tiefe Gräben, nun scheint die Regierung gewillt, auf allen Ebenen den Dampf zu erhöhen. Bürgertestzentren seien nun bundesweit eingerichtet worden, jeder Bürger kann sich kostenlos einmal die Woche testen lassen.

Und Merkel setzt da an, was viele schon lange fordern, da, da sich in Großraumbüro und in Fabrikhallen noch immer zu viele Infektionen ereignen, die dann über die Familien weiterverbreitet werden. Wenn nicht 90 Prozent der Wirtschaft bis April den Mitarbeitern am Arbeitsplatz regelmäßige Schnelltests anbieten, werde der Bund über eine Verordnung regulatorische Maßnahmen, spricht eine Testpflicht. „Das wird im Kabinett am 13. April entschieden werden.“

Und statt pauschal Auslandsurlaubsreisen zu verbieten, kommt nun ab Freitag eine Testpflicht für alle vor dem Rückflug, selbst zu bezahlen in der Regel.

Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sprach im „Deutschlandfunk“ aus Versehen davon, dass Rückkehrer nach Deutschland nun allesamt geimpft werden sollen. In diesen Tagen gerät halt einiges durcheinander.

Fordert mehr Beratung mit dem Bundestag vor Corona-Entscheidungen: FDP-Chef Christian Lindner.
Fordert mehr Beratung mit dem Bundestag vor Corona-Entscheidungen: FDP-Chef Christian Lindner.

© imago images/Political-Moments

Mehr Lockerung wagen

„Testen ist die Brücke hin bis wir die Impfwirkung sehen“, sagt Merkel. Und die Kanzlerin sagt das Folgende: „Wir sind ein föderaler Staat. Es ist keinem Landrat oder Oberbürgermeister verwehrt, das zu machen, was Tübingen und Rostock machen.“  Sprich, negativ getesteten Bürgern Zutritt etwa zu Geschäften, Kinos oder wie in Rostock sogar ins Fußballstadion zu gewähren, und parallel auf eine digitale Kontaktnachverfolgung wie mit der Luca-App setzen. Im Saarland wird praktisch das ganze Bundesland nun sogar zur Lockerungs-Modellregion.

Merkels Verbündete: Die Intensivmediziner

„Je mehr wir testen, umso weniger müssen wir einschränken.“  Doch dann schwenkt sie auf die andere Seite der Medaille um.

Ihr zurückgezogener Oster-Lockdown sei ja im Prinzip nur von einer Gruppe begrüßt worden: den Intensivmedizinern. „Daran sehen Sie, wie groß dort die Sorge ist.“ 

50-, 60-, 70-Jährige werden auf Intensivstationen landen. Menschen, die noch viel Lebenszeit vor sich hätten. Dazu die Langzeitschäden für Lunge und Gehirn. „Es lohnt sich um jeden zu kämpfen, dass er die Infektion nicht bekommt.“ Der Rückschlag durch die Mutante sei nicht vorhersehbar gewesen. „Wir leben im Grunde in einer neuen Pandemie.“

Sie erinnert daran, dass genau vor einem Jahr die Inzidenz bei 35 gelegen habe, jetzt bei 113 je 100.000 Einwohnern in sieben Tagen; 22.675 Neuninfektionen an einem Tag und insgesamt schon über 75.000 Todesfälle.

Wie Schäuble und Lindner kommt auch Merkel auf ein immer deutlicher zutage tretendes Problem zu sprechen: die Organisation des Krisenmanagements und die Entscheidungsprozesse. Die Pandemie habe gravierende Schwachstellen im staatlichen Gemeinwesen offengelegt, sagt sie. Zwischenruf aus der AfD-Fraktion: „In der Regierung.“ Sie sei doch seit 15 Jahren in der Verantwortung. Merkel kontert: „Da können Sie noch so schreien. Wir müssen etwas tun.“

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Warnt vor dem "Gift der Wut": Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus.
Warnt vor dem "Gift der Wut": Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus.

© imago images/Future Image

Brinkhaus platzt der Kragen: „Wo sind wir denn?“

Einem platzt an diesem Tag, an dem nur FDP-Chef Lindner Angela Merkel dezent auffordert, doch besser mal die Vertrauensfrage zu stellen, der Kragen: Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus.

Er wettert gegen die „Häme und Schärfe“, gegen „eine Unkultur in diesem Land“, jegliche Fehler würden als Skandal oder Versagen mit Vorsatz dargestellt. „Wo sind wir denn?“ Dann übernehme irgendwann niemand mehr Verantwortung für Fehler. „Das Gift der Wut sickert ein.“ Das Gift sei am Ende viel schlimmer als das Virus. „Lasst uns auf diesem Weg zusammenbleiben“, sagt Brinkhaus. Da ist einer echt in Sorge.

Und auch er fordert grundlegende Lehren, es ist sein Herzensthema seit Wochen. „Wir brauchen eine neue Philosophie für den nationalen Katastrophenschutz.“ Es brauche keine Reform, sondern eine Revolution. „Auf diesem Staatswesen liegt der Staub von 200 Jahren“. Es wird viel zu tun sein beim Aufarbeiten dieser Pandemie, aber sie biete auch Innovationsschübe, siehe die Digitalisierung.

Aber das eigentliche Problem ist ja nicht gelöst, der Name B.1.1.7. fällt fast gar nicht.

Wie machen wir nur weiter? Olaf Scholz und Angela Merkel im Bundestag.
Wie machen wir nur weiter? Olaf Scholz und Angela Merkel im Bundestag.

© Geisler-Fotopress

Scholz zerreißt seine Unterlagen

Merkel schaut interessiert auf, als die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagt, noch diese Woche könne hier im Parlament eine echte Notbremse, ein Wellenbrecher gegen die dritte Welle beschlossen werden. „Wir müssen endlich vor die Lage kommen.“ Und auch sie fordert „mehr Mut statt Wut“, ein gemeinsames, statt einsames Überlegen, was besser gemacht werden kann.

Irgendwie sind sich alle zumindest in einem einig. Diese Woche des Chaos erzwingt einen Neustart, es ist ein Weckruf. Die SPD-Abgeordnete Bärbel Bas sagt: „Ostern ist das Fest der Auferstehung. Die Pandemie besiegen wir nur gemeinsam“.

Vizekanzler Scholz zerreißt derweil auf der Regierungsbank Papiere aus seiner Vorlagenmappe, als wolle er diese Woche des Grauens vergessen machen.

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