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Milliardendefizit und steigende Fallzahlen: Für den Pflegenotstand fehlt der Ampel das Rezept
Gesundheitsminister Lauterbach sagt, die Zahl der Pflegebedürftigen steigt „explosionsartig“. Fachleute sind wenig überrascht. Doch die Regierung hat keine gemeinsame Antwort auf das Problem.
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Karl Lauterbach hat derzeit viel um die Ohren. Mit zwei Mega-Reformen will der Gesundheitsminister die medizinische Versorgung in Deutschland sichern – bei den Hausärzten und den Krankenhäusern. Das hat den SPD-Politiker nun nicht davon abgehalten, mit drastischen Worten den Fokus auf einen dritten Missstand im Gesundheitswesen zu legen.
Denn auch die Alterspflege ist, wie Fachleute schon lange warnen, nicht zukunftssicher aufgestellt. Lauterbach warnte deshalb vor einem akuten Problem in der Pflegeversicherung. „In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen“, sagte Lauterbach dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000.“

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Lauterbach führt das auf den „Sandwicheffekt“ zurück. Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kämen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig würden. Erstmals seien zwei Generationen auf Pflege angewiesen: „die Babyboomer und deren Eltern“.
Pflegereform sorgte für zusätzliche Fälle
Beim Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) kann man Lauterbachs Überraschung über den starken Anstieg nicht nachvollziehen. Der Verband erklärte am Montag, dass die Anzahl der Pflegebedürftigen seit 2017 jedes Jahr im Durchschnitt um rund 326.000 steige.
Damals wurden Menschen mit Demenz in neuen Pflegegraden in die Versicherung aufgenommen. Das gilt als naheliegende Erklärung für den starken Anstieg über dem demografisch Erwartbaren. „Seit 2017 haben insgesamt viel mehr Versicherte Anspruch auf Leistungen als vorher und haben diesen auch deutlich früher“, sagt die stellvertretende Vorsitzende des Medizinischen Dienstes Bund, Carola Engler.
Sie würden deshalb auch deutlich früher begutachtet. In der Folge stiegen die Begutachtungszahlen seit 2017 um 70 Prozent auf fast drei Millionen. Als die Reform verabschiedet wurde, habe man diesen Effekt unterschätzt, erklärte Engler.
Milliardendefizit droht
Die Folgen sind gravierend. Wie das Gesundheitsministerium mitteilte, sind in Deutschland inzwischen bereits 5,6 Millionen Menschen pflegebedürftig, davon rund 312.000 in der privaten Pflegeversicherung. Noch 2018 waren es weniger als vier Millionen. Und die größte demografische Herausforderung steht noch bevor, wenn die Babyboomer ins hohe Alter kommen. Laut bisherigen Prognosen aus der Wissenschaft erhöht sich die Zahl der Pflegebedürftigen binnen 15 Jahren weiter auf sechs Millionen.
Erst Anfang Mai hatte deshalb der Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK) vor einem Milliardendefizit in der sozialen Pflegeversicherung gewarnt. Er rechnet bereits in diesem Jahr mit einem Minus von gut einer Milliarde Euro in der sozialen Pflegeversicherung, bis 2025 könnte es nach Schätzungen des Verbands auf 4,4 Milliarden Euro anwachsen.
Im vergangenen Sommer hatte Lauterbach die Beiträge für Kinderlose auf 4 Prozent und für Eltern auf 3,4 Prozent erhöht. Nun räumte der Gesundheitsminister ein, dass dies nicht ausreichen wird, um Alterspflege auf dem jetzigen Niveau abzusichern. Lauterbach plädierte deshalb für eine Bürgerversicherung in der Pflege – sprich: auch Selbstständige und Beamte sollen mit Beiträgen die Kosten des gesetzlichen Systems mittragen.
Ampel kann sich nicht einigen
Daneben sprach sich Lauterbach für „einen höheren Steuerzuschuss“ aus. Damit will der Gesundheitsminister die Rentenbeiträge von pflegenden Angehörigen finanzieren. Der SPD-Politiker schlug zugleich vor, die Sozialhilfe für Pflegebedürftige zu reformieren. Er verwies darauf, dass viele Berechtigte diese Hilfe aus Scham nicht in Anspruch nehmen. Deshalb will er, dass künftig die Pflegekassen die Sozialhilfe auszahlen.
Allerdings geht Lauterbach nicht davon aus, dass die Ampelkoalition sich in dieser Legislatur noch auf eine umfassende Pflegereform einigen wird. Eine interministerielle Arbeitsgruppe zu dem Thema soll zwar, wie von Lauterbach im vergangenen Jahr zugesagt, Ende Mai ihre Beratungen beenden. Sie werde aber „wohl kaum zu einer einheitlichen Empfehlung“ kommen, räumte der Minister ein.
„Dafür sind die Ansichten der verschiedenen Ministerien beziehungsweise der Koalitionspartner zu unterschiedlich.“ Lösungsmöglichkeiten würden nebeneinandergestellt werden – und dienten als Grundlage für eine große Reform in der nächsten Wahlperiode. „Dann muss sie aber auch kommen.“
Die Fraktionsvize der Grünen, Maria Klein-Schmeink, beharrte hingegen auf einer raschen Reform. „Unser Ziel bleibt es, dass Pflege gerecht und verlässlich finanziert wird, und das so schnell wie möglich“, sagte sie. Insbesondere müssten Leistungen, die nicht Aufgabe der Pflegeversicherung seien, künftig aus Steuermitteln finanziert werden. „Dazu gehören die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige.“
Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach sprach von einer „Kapitulation Lauterbachs“. Die Bundesregierung dürfe nicht länger warten. Eine Struktur- und Finanzreform der Pflegeversicherung sei längst überfällig, sagte die CSU-Politikerin. (mit dpa)
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