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Nach Spitzengespräch zu Migration: Warum Zurückweisungen von Dublin-Flüchtlingen eine Zäsur bedeuten würden
Schon während der Flüchtlingskrise von 2015 stand die Forderung einer Zurückweisung von Migranten im Raum. Doch die damalige Kanzlerin Merkel entschied sich dagegen.
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Es ist die Rückkehr einer Debatte, welche die bundesdeutsche Politik schon einmal – 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise – geprägt hat. Was wären die Folgen, wenn Deutschland an den Außengrenzen Migranten abweisen würde? Die Union macht eine Fortsetzung der Gespräche über die Migrationspolitik mit Bund und Ländern davon abhängig, dass ihre Forderung erfüllt wird, solche Zurückweisungen künftig zu ermöglichen.
Wenn sich die Union mit ihrer Forderung durchsetzen würde, käme das einer historischen Zäsur gleich. Als vor neun Jahren hunderttausende syrische Bürgerkriegs-Flüchtlinge über die Balkanroute nach Deutschland kamen, stand ebenfalls die Forderung nach einer Schließung der deutschen Grenzen für Flüchtlinge im Raum. Doch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) entschließt sich dagegen. Ihre Befürchtung: Wenn Deutschland die Grenzen für Migranten schließt, dann gibt es in den vorgelagerten EU-Staaten auf der Balkanroute einen „Dominoeffekt“ – bis Flüchtlinge überhaupt keine Chance mehr haben, europäischen Boden zu betreten.
Erst das EU-Türkei-Abkommen vom März 2016 beruhigte damals die Lage. Doch die Diskussion über die Dysfunktionalität des Dublin-Abkommens ist erhalten geblieben. Das Abkommen besagt, dass Migranten eigentlich in jenem EU-Staat ihr Asylverfahren durchlaufen müssen, in dem sie zuerst den Boden der EU betreten. Trotzdem ziehen viele Migranten, die beispielsweise in Italien ankommen, nach Deutschland weiter – ohne Aussicht, dass Italien diese Flüchtlinge zurücknimmt.
Das Attentat von Solingen, bei dem drei Menschen von einem mutmaßlich islamistischen Attentäter aus Syrien getötet wurden, hat die Diskussion um die politischen Folgen aus dem Zusammenbruch des Dublin-Systems noch einmal verschärft. Zwar sieht die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) eine Rückkehr zum Dublin-System bei gleichzeitiger Entlastung der Ankunftsstaaten vor – doch die Reform wird erst in zwei Jahren greifen. Der mutmaßliche Attentäter von Solingen hätte eigentlich nach Bulgarien, wo die Behörden für das Asylverfahren zuständig gewesen wären, zurückgebracht werden müssen.
Darauf fußt nun die Forderung der Union, künftig Flüchtlinge an den deutschen Außengrenzen zurückzuweisen, wenn sie sich zuvor in einem anderen EU-Land aufgehalten haben. CDU-Chef Friedrich Merz hat dafür die Erklärung einer „nationalen Notlage“ ins Gespräch gebracht. Der Haken dabei: Bevor es zu einer möglichen Zurückweisung von Migranten käme, müsste die EU-Kommission „vorläufige Maßnahmen“ zugunsten Deutschlands vorschlagen, die wiederum von einer Mehrheit unter den EU-Staaten abgesegnet werden müssten.
Nach dem Spitzengespräch von Bund, Ländern und der Union vom Dienstag wird nun im Innen- und im Justizministerium geprüft, ob Zurückweisungen von Dublin-Flüchtlingen möglich sind. Die Prüfung soll bis Anfang kommender Woche abgeschlossen werden, bevor es möglicherweise ein weiteres Spitzentreffen zur Migration gibt. Bei der Prüfung dürfte auch eine Rolle spielen, dass die bisherige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einer Zurückweisung an den EU-Binnengrenzen entgegensteht.
Nach Angaben aus Kreisen der Teilnehmer des Migrationsgipfels im Innenministerium zeigten sich die Vertreter von SPD und FDP offen für mögliche Zurückweisungen. Die Grünen hielten sich hingegen den Angaben zufolge bedeckt.
Das geltende Dublin-System hat in den letzten Jahren große Mängel offenbart.
Dirk Wiese, SPD-Fraktionsvize
Das Gespräch im Innenministerium sei vom Ziel aller Beteiligten geprägt gewesen, „die irreguläre Migration nach Deutschland deutlich zu reduzieren“, sagte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese dem Tagesspiegel. Das geltende Dublin-System habe in den letzten Jahren „große Mängel offenbart“, sagte Wiese weiter. Auch deswegen sei die GEAS-Reform beschlossen worden. „Bis die neuen Regeln Mitte 2026 final in Kraft treten, sind wir allerdings auch weiterhin gefordert, die richtigen nationalen Maßnahmen zu ergreifen“, fügte der SPD-Politiker hinzu. „Ein Baustein hierbei kann die Zurückweisung an den deutschen Grenzen sein.“ Die verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Fragen dazu würden nun „intensiv geprüft und mögliche Folgen ergebnisoffen bewertet“, sagte er.
Die Grünen empfinden dagegen die neuerliche Debatte über Zurückweisungen an der Grenze als Zumutung. Schon die Asylverschärfungen, auf die sich die Bundesregierung in der vergangenen Woche verständigt hat, gehen vielen in der Bundestagsfraktion viel zu weit: Kaum noch Sozialleistungen für Flüchtlinge, die in EU-Länder abgeschoben werden sollen – da hat auch Fraktionschefin Britta Haßelmann Bedenken. Auch Abschiebungen nach Afghanistan wollen viele in der Fraktionsspitze weiter nicht, obwohl der erste Flieger bereits abgehoben hat.
Bei den Grünen ist der Ärger über CDU-Chef Merz deshalb groß. Aus ihrer Sicht eskaliert er die Debatte über Flüchtlinge nach dem Attentat von Solingen unnötig immer weiter – mit Vorschlägen, die sich nicht umsetzen lassen. Dass Innen- und Justizministerium nun prüfen sollen, ob Zurückweisungen möglich sind, halten die Migrationsexperten der Partei für eine Farce.
Diese seien nach Europarecht nicht zulässig, sagt die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin, Irene Mihalic, kategorisch. Sie verweist auf die Dublin-Regeln. Danach muss zunächst geklärt werden, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist, bevor der Flüchtling dorthin abgeschoben werden kann. „Das ist in der Regel nicht ganz einfach und es wäre auch praktisch unmöglich, dies an der Grenze durchzuführen“, sagte Mihalic der „Funke Mediengruppe“.
Auch Merz’ Verweis auf eine „nationale Notlage“ findet Mihalic rechtlich „abwegig“. Sie will die EU-Partner nicht vor den Kopf stoßen. „Auch wenn die EU-Regelungen nicht zufriedenstellend funktionieren, sind sie immer besser für Deutschland als nationale Alleingänge“, sagte die Innenexpertin.
In einem von Mihalic mitverfassten Positionspapier schlagen die Grünen statt einseitiger Zurückweisungen mehr „mobile Binnengrenzkontrollen“ vor. Entlang von Deutschlands Grenzen soll es in Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten mehr Patrouillen der Grenzpolizei geben, um Flüchtlinge am Überschreiten der Grenze zu hindern. Das Positionspapier mit diesem grünen Kompromissvorschlag soll der Fraktionsvorstand heute beschließen. Ansonsten fordern die Grünen in den Papier nach Solingen vor allem mehr innere Sicherheit, statt einer härteren Migrationspolitik.
Viele in der Fraktionsspitze würden gerne verbal noch härter zurückschlagen und die Union direkt attackieren. Doch noch haben sich die Grünen dazu nicht durchgerungen. In der Partei ist man aber überzeugt, dass die gesamte Ampel-Koalition Zurückweisungen im Grunde nicht wolle.
Am Abend kritisierte der Fraktionsvize Andreas Audretsch den CDU-Chef und CSU-Chef Markus Söder dann scharf. Sie übertrumpften sich in Populismus, sagte Audretsch dem Tagesspiegel. Der Machtkampf in der Union gefährde mittlerweile Europa. „Helmut Kohl ist in den 90er Jahren für ein offenes, geeintes Europa eingetreten. Merz und Söder wollen das Erbe von Helmut Kohl nun einreißen.“
Wer die deutsche Grenze zu Polen, Österreich oder Frankreich dauerhaft schließe, bringe die Menschen in diesen Ländern gegen uns auf, betonte Audretsch. „Das stellt unser Europa grundsätzlich in Frage.“
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