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Frisch vereidigt. Angela Merkel hat am Mittwoch als Bundeskanzlerin auf der Regierungsbank Platz genommen.

© Gregor Fischer/dpa

Neue Bundesregierung vereidigt: Staatsbürgerliches Familienfest im Parlament

Von Käsebrötchen bis zur feixenden Kleinfamilie: Am Tag der Kanzlerinnenwahl summt und brummt es im Bundestag. Joachim Sauer ist das erste Mal dabei und seine Frau wirkt trotz aller Routine etwas angespannt.

Von
  • Robert Birnbaum
  • Hans Monath

Sicher ist sicher, wird sich Volker Kauder gedacht haben, und so bietet der Fraktionssaal der Union am Mittwoch einen ungewohnten Anblick. Auf jedem der 246 Abgeordnetenplätze steht ein Teller, und auf jedem der Teller warten drei halbe belegte Brötchen. Käsebrot statt Peitsche sozusagen zum frühmorgendlichen Zählappell. „Wir tun alles, dass sie sich wohl fühlen“, frotzelt Kauders Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer. Einen Saal weiter versammeln sich die Kollegen von der SPD. Ihre Tische bleiben leer; wer noch nicht gefrühstückt hat, muss sich halt draußen beim Reichstagscatering selber versorgen. Der Kauder, muss man im Nachhinein sagen, hatte den besseren Riecher für die Gefahr.

Viel zu spüren ist davon sonst nicht im Reichstag. Eine Kanzlerwahl ist nämlich einerseits eine sehr ernste staatsbürgerliche Sache. Andererseits hat der Tag immer etwas von einem Familienfest. Kurz vor neun summselt und brummselt es im Plenarsaal. Unten schlendern die Abgeordneten durch die Gänge. Man begrüßt sich fraktionsübergreifend, frischgebackene Staatssekretäre gratulieren sich gegenseitig. Renate Künast mit ihren Krücken muss dauernd erzählen, wie sie sich beim Badeurlaub ein Bein gebrochen hat, in dem jetzt eine Titanschraube steckt. Nur die AfD spielt wieder „rechter Block“ und sitzt mit reichlich verschränkten Armen da. Das wird später so bleiben, wenn alle anderen applaudieren. Die Fraktionschefs Alexander Gauland und Alice Weidel sind verschnupft. Sie putzen sich synchron die Nase.

Ein geplanter Deal um Paragraf 219a wurde abgesagt

Derweil drückt Kauder der SPD-Kollegin Andrea Nahles sehr lange und sehr intensiv die Hand. Die zwei haben am Vortag gemeinsam ein Ding gedreht. Dazu muss man wissen, dass die SPD-Fraktion vorhatte, quasi zwischen dem Ende der regierungslosen Zeit und dem Beginn der Koalitionsdisziplin schnell noch den Paragrafen 219a abzuschaffen. Der verbietet Werbung für Abtreibung, worunter auch schon Ärzte fallen, wenn sie wissen lassen, dass sie Abtreibungen vornehmen. Die SPD wollte die Vorschrift zusammen mit Linken, Grünen und FDP zu Fall bringen. Kauder hatte das Manöver eigentlich abgenickt. Aber irgendwann muss beiden Fraktionschefs gedämmert haben, dass so eine Ausnahme schnell zur Wiederholung reizt. Nahles hat den SPD-Antrag zurückgezogen. Das hat in ihrer Fraktion viele geärgert. Man muss sich diese Geschichte merken, für nachher.

Bis zur Ernennung bleiben die künftigen Minister auf der Tribüne

Vorher treffen sich jetzt aber oben auf den Tribünen erst einmal diejenigen, die noch nicht runter dürfen. Das Parlament achtet sehr fein auf die Etikette: Ein Olaf Scholz, eine Julia Klöckner, eine Franziska Giffey oder eine Svenja Schulze haben kein Mandat im Bundestag und also auf dem Parkett bis zur Ernennung nichts verloren. Sie dürfen übrigens selbst hinterher nur bis zur Regierungsbank. Sogar ein Horst Seehofer muss oben warten. Seit zwei Tagen ist er nicht mehr Ministerpräsident– was der Stellvertreterin Ilse Aigner den Bayern-Platz in der Bundesratsbank sichert–, ein Bundesmandat hat der CSU-Chef auch nicht. Er kommt mit 22 Minuten Verspätung. So fehlt er auf dem Gruppenhandyfoto mit blau gewandeten Damen, für das sich Scholz zwischen die künftigen Ministerinnenkollegen stellt.

Erstmals ist Joachim Sauer bei der Kanzlerinnenwahl

Unten plaudert die Frau, um die es geht, ebenfalls in fröhlicher Frauenrunde. Angela Merkel erzählt etwas, die Grüne Katrin Göring-Eckardt lacht. Sie hätte gerne regiert, und Merkel hätte gerne mit ihr regiert. Das hat bekanntlich FDP-Chef Christian Lindner abgewürgt. Aber aus den Jamaika-Tagen ist etwas geblieben zwischen Schwarzen und Grünen. Irgendwann legt Göring-Eckardt Hermann Gröhe tröstend die Hand auf die Schulter, der jetzt ein Ex-Minister ist.

Gleich geht es dann los, aber Merkel zeigt noch schnell nach oben. Wie immer seit zwölf Jahren ist ihre Mutter gekommen, Herlind Kasner, 89 Jahre alt, eine kleine gebeugte Frau. Da sitzt aber noch einer, und der nun allerdings zum allerersten Mal. Joachim Sauer hat die Wahl seiner Frau zur Regierungschefin immer geschwänzt; zur letzten kommt er. Sein Sohn Daniel ist dabei, auch Merkels Schwager Sven Kasner – und die politische Familie: der Regierungssprecher, Bürochefin Beate Baumann, Planungschefin Eva Christiansen.

Siegmar Gabriel kommt nur kurz zur Stimmabgabe

Es kann jetzt also wirklich losgehen. Um 9.05 Uhr eröffnet der Parlamentspräsident den Wahlgang. Wolfgang Schäuble erinnert an die Vorschriften – nur ein Kreuz bitte, keine zwei, Wahlzettel ohne Kreuz oder mit Nebenbemerkungen sind ebenfalls ungültig –, dann beginnen seine zwei Beisitzer die lange Namensliste vorzulesen, von A wie Michael von Abercron bis Z wie Sabine Zimmermann. Wer aufgerufen ist, geht zu einer der Wahlkabinen an den Kopfseiten des Saales und mit dem Wahlzettel zurück zu einer der zwei Urnen vorm Rednerpult.

Das Ganze dauert. Oben holt der Professor Sauer seinen Laptop aus der Aktentasche und taucht für die nächste Dreiviertelstunde in andere Welten ab. Unten im Saal schlendern die, die grad nicht dran sind, wieder umher. Einer kommt nur ganz kurz rein, wirft seinen Wahlzettel in die Urne, redet ein paar Worte mit Merkel und mit Kauder und geht dann sofort wieder raus. An der eigenen Fraktion schaut Sigmar Gabriel vorbei als wäre sie dieselverseuchte Luft.

Im Grunde ist ihre vierte Wahl eine Sensation

Merkel ist immer gut sichtbar mit ihrem weißen Blazer. Ob sie nervös ist? Angespannt wirkt sie schon, wie sie da durch die vorderen Reihen tigert. Zur Kanzlerin gewählt zu werden ist offenkundig nichts, an das man sich gewöhnt.

Ob sie dieser Tage einmal Zeit gehabt hat, darüber nachzudenken, was für eine Sensation dieses vierte Mal im Grunde genommen ist? Deutsche Kanzler bekommen vom Wähler höchstens zwei Wahlperioden zugestanden. Helmut Kohls 16 Jahre waren keine Ausnahme, sondern Bestätigung der Regel, weil den Alten damals nur der Fall der Mauer die zweiten acht Jahre bescherte. Einzig der erste Kanzler Konrad Adenauer regierte länger. Und jetzt also sie. Die Frau aus dem Osten, „Kohls Mädchen“, „Person des Jahres 2015“ für das „Time“-Magazin, „Anführerin der freien Welt“ für die „New York Times“, Hassfigur für den Mann, dessen selbst gemaltes „Merkel muss weg“-Pappschild auf dem Bürgersteig vor dem Reichstag im Nieselregen aufweicht. So viele Jahre, so viele Etiketten. Und nun – noch mal.

35 haben Angela Merkel die Gefolgschaft verweigert

Um 9:24 Uhr will Schäuble den Wahlgang schließen, da ruft es „Nein!“ und „Stopp!“ von hinten her. Eine junge Frau saust die Wand entlang zur Wahlkabine und rennt zur Urne. Fast hätte Julia Verlinden die Sache verpasst! Was nicht ganz so bedeutsam gewesen wäre, weil Verlinden eine Grüne ist und es bei der Opposition auf die Nein-Stimmen und Enthaltungen nicht wirklich ankommt.

Bei der Koalition kommt es darauf an. 355 Stimmen sind die Kanzlermehrheit, also die absolute Mehrheit aller Mitglieder des Parlaments. 399 Stimmen haben CDU, CSU und SPD. Um 9:53 Uhr nimmt der Parlamentspräsident das Blatt auf, auf dem das Wahlergebnis aufgeschrieben ist. 17 Abgeordnete haben nicht mitgestimmt, aus welchen Gründen auch immer, vier Zettel sind ungültig. „Mit Ja gestimmt haben 364“, sagt Schäuble.

Durch den Saal geht ein gedämpftes „Uuuh!“ Nur neun Stimmen über den Durst! 35 haben Merkel die Gefolgschaft verweigert. Sie schaut indifferent, dann, als Applaus aufbrandet, die Union sich erhebt, die SPD hingegen nicht, als schließlich der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Reiner Haseloff ganz schnell von der Bundesratsbank aus ein Erinnerungsfoto schießt – da taucht in ihrem Gesicht ein leises Lächeln auf. Schäuble muss jetzt fragen, ob sie die Wahl annimmt. „Ja, Herr Präsident, ich nehme die Wahl an!“

Kommentare von "schlechtem Omen" bis zu "exzellent"

Hinterher wird es im Foyer vor dem Plenarsaal allerlei Versuche geben, das Wahlergebnis zu deuten. Die Opposition macht natürlich gleich ein schlechtes Omen aus. Die von der Union versichern, sie seien’s nicht gewesen. Der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider versichert, sie auch nicht. Das kann aber allein deshalb nicht stimmen, weil zum Beispiel die SPD-Linke Hilde Mattheis ganz offen verkündet, dass Merkel ihre Stimme nicht bekommen habe und dass Enthaltungen auch nicht ihre, also Mattheis’ Art seien.

Ein paar prinzipielle Gegner dieser großen Koalition, dazu vielleicht ein paar, die das Paragraf-219a-Manöver zwischen Kauder und Nahles übel genommen haben, und dann noch welche aus welcher der drei Parteien auch immer, die Merkel eine Ohrfeige im ersten Wahlgang gegönnt haben mögen – da wird es dann schnell eng. „Die Regierungsmehrheit steht, eine #GroKo ist es nicht“, twittert Nahles’ Vorgänger Thomas Oppermann, womit er mindestens mathematisch schon mal Recht hat. Der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt wiederum rechnet vor, dass Merkel 2013 noch mehr Gegenstimmen bekommen habe – 42 nämlich – und das jetzige Ergebnis eingedenk der Vorgeschichte und der ganzen mühsamen Regierungsbildung als „exzellent“ zu betrachten sei.

AfD-Mann Bystron muss ein Ordnungsgeld zahlen

Drinnen im Saal reihen sich die Gratulanten. Freunde, Parteifreunde, Opponenten und – mit Abstand und knappen Gesten – Gegner wie die AfD-Spitze. Die Ex-AfD-Spitze Frauke Petry drückt Merkel ein Buch in die Hand – „Höhenrausch – die wirklichkeitsleere Welt der Politiker“ des früheren Spiegel-Reporters Jürgen Leinemann. Jeder hat halt so seine Art, etwas vom Rampenlicht des Tages für sich abzuzweigen. Den AfD-Mann Petr Bystron kostet seine Art 1000 Euro Ordnungsgeld. Er hat seinen Wahlzettel mit dem „Nein“-Kreuz abfotografiert und damit, rügt Schäuble, „bewusst gegen das Wahlgeheimnis verstoßen“.

Das sind Mätzchen, die Merkel leicht abtun kann. Doch irgendwann in der Schar der Gratulanten steht Martin Schulz vor ihr. Seine Grippe ist wohl nicht ganz kuriert, trotzdem ist er nach Berlin gekommen, um der einstigen Konkurrentin seine Stimme zu geben. Merkel dankt ihm den Glückwunsch mit einer Miene, in der Mitleid zu lesen steht. Die zwei kennen und schätzen sich aus langen gemeinsamen Brüsseler Jahren. Der einfache Abgeordnete Schulz – so hätte es für sie ja leicht auch enden können.

Der Bundespräsident ist der zweite Sieger des Tages

Stattdessen fängt es noch einmal neu an. Am Nachmittag steht die Kanzlerin mit ihrem neuen Kabinett im großen Saal des Schlosses Bellevue neben dem Mann, dem sie das zu guten Teilen verdankt. Frank-Walter Steinmeier strahlt über beide Backen. Der Bundespräsident ist der zweite Sieger dieses Tages. Er hat nach dem Jamaika-Scheitern seine alte SPD in die staatsbürgerliche Pflicht genommen, und sie ist murrend und zagend und verzweifelnd gefolgt. Vorige Woche, erzählt Steinmeier, habe er seinen Antrittsbesuch in Nordrhein-Westfalen nachgeholt und sei im sauerländischen Arnsberg von einem Ehrenamtler mit den Worten empfangen worden: „Willkommen, Herr Bundespräsident – es wurde aber auch Zeit!“ Was er hiermit in Abwandlung der Regierung auch zurufe.

Steinmeier hat getan, was er für seine Pflicht ansah. Jetzt müssen sich die Regierenden bewähren. Ein paar Ermahnungen bekommen sie mit – ein „Neuaufguss“ der letzten großen Koalition werde nicht reichen, den normalen Menschen genau zuhören sei wichtig, aber auch der Hoffnung gerecht zu werden, die viele im In- und Ausland gerade an diese deutsche Regierung richteten: in Zeiten, in denen Abschotter und Autoritäre und Nationalisten Wahlen gewinnen, das Gegenmodell der liberalen Demokratie als handlungs- und zukunftsfähig zu beweisen. „Dies sind Bewährungsjahre für die Demokratie“, mahnt das Staatsoberhaupt.

Die neue Kleinfamilie nimmt - auch stolz - auf der Regierungsbank Platz

Damit könnte er verdammt recht haben. Aber eigentlich sind solche Gedanken fast ein bisschen zu schwer für diesen Tag. Es hat als Familienfeier begonnen und endet mit einer neuen Kleinfamilie, die da feixend endlich auf der Regierungsbank Platz nimmt. Auch Stolz ist dabei. Für etliche rundet sich ein Kreis. Hubertus Heil, der künftige Arbeitsminister, hat morgens ein altes Foto rumgezeigt: Bundeskanzler Gerhard Schröder empfängt junge Abgeordnete. Heil selbst war dabei und ganz links außen mit dichtem schwarzgelockten Haar – Olaf Scholz.

Der darf nun mit in den Saal, so wie Seehofer und die anderen. Sie alle schwören den Eid, dem Wohl des Landes zu dienen, die meisten mit dem Zusatz „So wahr mir Gott helfe“. Sie alle haben sich vorgenommen, die längste Regierungsbildung der Republik schnell wieder reinzuarbeiten. Wobei – einmal durchatmen wäre vielleicht auch nicht ganz falsch. Wie hat der eigentlich unverwüstliche Peter Altmaier gesagt, als er morgens in die Fraktion kam? „Es kann jetzt ruhig mal 14Tage langweilig werden.“

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