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Bei einer Demo in Wien tragen Teilnehmende Schilder mit dem durchgestrichenen Konterfei des russischen Präsidenten Putin.

© Leonhard Foeger/REUTERS

Was Biden, Scholz und Macron nicht sagen wollen: Putins Sturz ist wünschenswert – aber noch unrealistisch

Es ist kein unerträglicher Widerspruch: Jetzt mit Putin über ein Kriegsende verhandeln und ihn später vor Gericht bringen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Was ist eigentlich das größere Problem: Dass US-Präsident Joe Biden in seiner Rede in Warschau gesagt hat, Wladimir Putin dürfe nicht an der Macht bleiben? Oder dass seine Regierung hinterher versucht, dies wieder halb zurückzunehmen? Regime Change in Moskau gehöre nicht zu den erklärten Zielen der US-Politik, erklärt das Weiße Haus.

Das klingt so, als sei es völlig okay, wenn ein Staatschef, den Biden als „Killer“, „Schlächter“ und „Kriegsverbrecher“ bezeichnet hat, die Macht behält. Aber wäre das nicht der größere Skandal?

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Zurück in Washington hat Biden nun die Relativierung zurückgewiesen. Er stehe zu seinen Worten: „Wladimir Putin kann nicht an der Macht bleiben“, das sei eine moralische Bewertung und nicht die Ankündigung einer neuen Politik des Regime Changes in Moskau.

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Diese Frage sollte auch Kanzler Olaf Scholz eindeutig beantworten. Tut er aber nicht. Bei Anne Will lehnt er Regime Change ab, versäumt es aber, den Deutschen zu erklären, ob er es besser findet, wenn Putin bleibt oder wenn er über den verbrecherischen Krieg stürzt.

Zum Vorgehen der russischen Armee, insbesondere in der Stadt Mariupol, haben Völkerrechtler bereits gesagt, es erfülle die Merkmale von Völkermord. Und dennoch lassen Staats- und Regierungschefs westlicher Demokratien wie Emmanuel Macron und Olaf Scholz nun den Eindruck entstehen, es sei ein Fehler, sich zu wünschen, dass Putin zur Verantwortung gezogen wird?

Ein Massenmörder darf nicht an der Macht bleiben

Wieder einmal versagen Spitzenpolitiker, ihre „Spin Doctors“ und Sprecher vor der Aufgabe, den Bürgern ihr Reden und Handeln zu erläutern. Zu diesem Erklären gehört auch, dass Aussagen, die wie Widersprüche klingen, gar nicht so widersprüchlich sind.

Aus moralischer und völkerrechtlicher Sicht muss man doch zu der Bewertung kommen, dass ein Massenmörder wie Putin nicht an der Macht bleiben darf. Sein Sturz ist absolut wünschenswert. Das darf – und soll – man ruhig aussprechen. Das gilt auch für Biden, Macron und Scholz.

Von der realpolitischen Seite betrachtet müssen sie jedoch fragen, ob sie dieses Ziel erreichen können und wie und wann. Und mit welchen Kosten das verbunden wäre. Je nachdem wird – wie bei anderem Regierungshandeln auch – aus dem Wünschenswerten ein erklärtes Ziel der aktuellen Tagespolitik. Oder eben nicht.

Milosevic landete vor dem Strafgericht, Assad nicht

In Wahrheit ist der Wunsch, dass Putin stürzt und als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt wird, keine Frage von jetzt oder nie. Das klärt sich mit der Zeit.

Serbische Kriegsverbrecher wie Slobodan Milosevic, Radovan Karadzic und Ratko Mladic landeten vor dem Kriegsverbrechertribunal. Syriens Diktator Baschir al Assad nicht, trotz Massenmords und Chemiewaffeneinsatz gegen Zivilisten.

Er ist bis heute an der Macht. Das heißt aber nicht, dass die Menschheit den Anspruch der Strafverfolgung aufgeben muss.

Im Moment hat westliche Ukrainepolitik drängendere Aufgaben als einen Regime Change in Moskau. Dazu gehören eine Waffenruhe in der Ukraine, Schutz der Zivilbevölkerung in eingeschlossenen Städten und Waffenlieferungen, damit die Angegriffenen sich weiter erfolgreich gegen die russische Aggression wehren können.

Gründe für westliches Zögern: Noch ist Putin Verhandlungspartner

Aber: Würde es die Chancen auf eine Verhandlungslösung erhöhen, wenn der Westen Putin sagt, dass er alle politischen Hebel in Bewegung setzt, um ihn zu stürzen? Natürlich nicht.

Gleichzeitig gibt sich Putin gewiss keinen Illusionen hin, ob er ein akzeptierter Wunschpartner ist. Er fürchtet, dass der Westen sich hinter seinem Rücken mit potenziellen Nachfolgern einigt. Schon jetzt fällt auf, dass er etablierte Gesprächskanäle, zum Beispiel zwischen amerikanischen und russischen Generälen, kappt.

Derzeit müssen die Ukraine und der Westen davon ausgehen, dass Putin der Machthaber ist, mit dem ein Verhandlungsfrieden geschlossen werden muss. Solange das gilt, erklärt man seinen Sturz nicht zum ausdrücklichen Ziel.

Die Lage kann sich aber ändern. Je blamabler der Krieg für Putin verläuft, desto wackeliger sein Thron. Deshalb gibt es auch keinen Grund, für alle Zeit Regime Change auszuschließen.

Klar ist auch: Ein Zurück zum Umgang vor dem Krieg ist auf absehbare Zeit nicht vorstellbar. Bilder von einem G20-Gipfel, bei dem Scholz, Macron und Biden Putin mit Händedruck und Lächeln begrüßen? Undenkbar. Er ist maximal kontaminiert und bleibt, wenn er sich an der Macht hält, in internationaler Quarantäne.

Was käme nach Putin? Und wer sichert die Atomwaffen?

Brisanter ist die Frage, was nach Putin käme, wenn er denn stürzt. Die Welt hofft auf einen kontrollierten Machtwechsel, ohne Chaos und lange Instabilität. Die russischen Atomwaffen müssen in sicherer Verwahrung bleiben. Der Westen kann auch nicht wollen, dass eine Person Putin ersetzt, die ihn an Rücksichtslosigkeit und Bereitschaft zu Verbrechen noch übertrifft.

Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:

Warum ist Joe Biden in der Lage, diesen Zwiespalt offen zu legen, Olaf Scholz und Emmanuel Macron hingegen nicht? Die westlichen Werte gebieten geradezu den Wunsch, dass einer wie Putin die Macht verliert und sich für seine Verbrechen verantworten muss. Das zwingt aber nicht dazu, seinen Sturz zu einem unmittelbaren Ziel aktiven Regierungshandelns in den kommenden Wochen zu erklären.

In Polen und anderen östlichen Bündnisländern kann man die westliche Aufregung über Bidens Satz übrigens nicht nachvollziehen. In der Ukraine noch weniger.

Schon in Friedenszeiten kämpft die Politik mit Zielkonflikten und Widersprüchen zwischen reiner Lehre und Realität. Im Krieg gilt das dreifach. Ein Wolodymyr Selenskyj muss seinen Bürgerinnen und Bürgern weit dramatischere Abwägungen zumuten als die Frage, ob man den wünschenswerten Sturz von Putin heute zum Ziel erklären darf.

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