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„Querdenken“-Demonstration von Kritikern der Corona-Maßnahmen am Samstag auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart.

© imago images/Eibner

Update

Rassismus und Antisemitismus in der Coronakrise: Opferberatungen befürchten rechtsterroristische Radikalisierung

Bei den Corona-Demonstrationen geht es immer aggressiver zu. Insgesamt gibt es rechte Gewalt auf anhaltend hohem Niveau.

Von Matthias Meisner

Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt sehen in der Coronakrise eine weitere Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus.

Bei der Vorstellung der Jahresstatistik des Dachverbandes VBRG zu diesem Thema am Dienstag vor der Presse in Berlin sagte Gideon Botsch, der Leiter der Forschungsstelle Antisemitismus am Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam, die „sehr rasante Dynamik der Aufheizung“ bei den Demonstrationen in den vergangenen Wochen „lässt neue rechtsterroristische Radikalisierungsschübe befürchten“.

Bei vielen Corona-Protesten ziehen Rechtsradikale im Hintergrund die Strippen oder treten sogar offen als Organisatoren auf. Anmelder oder Versammlungsleiter sind immer wieder auch AfD-Politiker.

Botsch sagte weiter, es gebe neben Regelverletzungen immer häufiger Drohungen und auch erste Gewalttaten. Zudem kritisierte er: „Bei einigen Protesten gegen die Infektionsschutzmaßnahmen der letzten Wochen tritt, bei aller Unterschiedlichkeit der Teilnehmenden, der dauernd latent vorhandene Antisemitismus hinter dem Verschwörungsdenken nun offen zutage.“

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Die Aktivistin Newroz Duman, die sich unter anderem als Sprecherin der Initiative „19. Februar“ aus Hanau gegen Rassismus engagiert, sieht durch die manche Debatten in der Coronakrise „den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Teilhabe der Angegriffenen“ bedroht. Vor allem asiatischstämmige Menschen sind in der Pandemie immer häufiger rassistischen Attacken ausgesetzt.

Die Rede ist von einem „Corona-Rassismus“, der bisher von der Bundesregierung laut Antworten auf parlamentarische Anfragen weitgehend ignoriert wird.

Die im VBRG zusammengeschlossenen Beratungsstellen erheben die Zahlen von rechten Gewalttaten systematisch in allen fünf ostdeutschen Bundesländern sowie in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Dort wurden im vergangenen Jahr 1347 rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierte Angriffe registriert.

Rassismus häufigstes Tatmotiv

Damit wurden in der Hälfte aller Bundesländer im Jahr 2019 täglich mindestens fünf Menschen Opfer rechter Gewalt. Unter den 1982 direkt davon Betroffenen stieg der Anteil von Kindern und Jugendlichen um 14 Prozent.

Rassismus sei wie schon in den Vorjahren das bei weitem häufigste Tatmotiv gewesen - und Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrungen sowie schwarze Deutsche seien überproportional oft die Opfer. Gegenüber 2018 sank die Zahl der verzeichneten Fälle um zehn Prozent.

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Drei Menschen starben 2019 als Opfer von Rechtsterrorismus: Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke sei am 2. Juni „regelrecht hingerichtet“ worden, sagte Judith Porath vom VBRG-Vorstand. Die dringend Tatverdächtigen seien seit Jahrzehnten als militante Neonazis bekannt und organisiert.

In Halle starben zwei Menschen. Mehr als 50 in der Synagoge überlebten den antisemitischen Anschlag dort nur knapp durch glückliche Umstände. In diesem Jahr starben beim rassistisch motivierten Anschlag am 19. Februar in Hanau zehn Menschen.

Berlin ragt bei rechter Gewalt heraus

Gemessen an der Einwohnerzahl liegt Berlin bei rassistischer und rechter Gewalt an der Spitze, mit 10,7 Angriffe pro 100.000 Einwohner - und einer deutlichen Zunahme im Vergleich zum Vorjahr. In Sachsen-Anhalt wurden sechs Angriffe pro 100.000 Einwohner registriert, in Brandenburg 5,6 sowie in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern je 5,5 pro 100.000 Einwohner. Thüringen kommt auf fünf Angriffe pro 100.000 Einwohner, in Schleswig-Holstein (1,9) sowie in Nordrhein-Westfalen (1,1) sind es gemessen an der Bevölkerungszahl deutlich weniger.

Brief an Lambrecht: Angegriffenen besser helfen

Der VBRG veröffentlichte am Dienstag einen Offenen Brief an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) mit der Forderung, die Lücke bei den staatlichen Entschädigungsleistungen für die Angegriffenen zu schließen. In dem Schreiben heißt es: „Rassistisch und antisemitisch motivierte Gewalt will auch die wirtschaftliche Existenz der Angegriffenen und ihrer Familien vernichten und sie aus den Unternehmens- und Gewerbestrukturen vor Ort verdrängen.“

Und: „Die Angegriffenen stehen nach den Anschlägen buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz - und werden mit den Folgen allzu oft alleine gelassen.“

Unterzeichner sind mehr als 50 prominente Vertreterinnen und Vertreter von Sozialverbänden, Gewerkschaften, Abgeordnete von SPD, Grünen und Linken sowie Barbara John, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen und Opfer des NSU-Terrors. Unterschrieben haben beispielsweise auch der Grünen-Politiker Cem Özdemir, der Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, Markus N. Beeko, die Linken-Vorsitzende Katja Kipping, Sachsens DGB-Chef Markus Schlimbach sowie die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz aus Frankfurt am Main.

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Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hatte in den vergangenen Tagen zahlreiche antisemitische Vorfällen im Zusammenhang mit Corona-Protesten dokumentiert, etwa in Karlsruhe, Köln, Bremen, Koblenz, Cottbus und Stuttgart. Auf Demonstrationen hefteten sich Teilnehmer einen sogenannten „Judenstern“ an die Brust, mit Inschriften wie „CoV-2“ oder „nicht geimpft“.

Eine Frau beim Protest von Corona-Leugnern am Samstag in München trug ein Schild mit einer durchgestrichenen Spritze und den Worten „Nie wieder Diktatur Dr. Mengele“. Auf einer „Hygiene-Demo“ in Darmstadt wurde das Holocaust-Opfer Anne Frank auf einem Plakat instrumentalisiert.

Zentralrat der Juden: Opfer der Schoa werden verhöhnt

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, ist alarmiert. Er sagt, Rechtsradikale würden die durch die Coronakrise entstandenen Ängste nutzen, um antisemitische Verschwörungsmythen und ihr radikales Weltbild zu verbreiten – im Internet aber auch auf sogenannten Hygiene-Demos: „Wer an einer Demo gegen die Grundrechts-Einschränkungen teilnimmt, muss sich bewusst machen, an wessen Seite er demonstriert und welche Aussagen dort verbreitet werden.“

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Schuster sagte weiter: „Mit Antisemiten und Rechtsradikalen darf man sich nicht gemein machen.“ Gegen die derzeitigen Maßnahmen mit Symbolen zu demonstrieren, die an den Holocaust erinnern, sei geschmacklos und verhöhne die Opfer der Schoa. „Dessen sollten sich alle bewusst sein, die aus hehren Motiven mitmarschieren.“

Rechtsradikale organisieren Protest mit Kemmerich in Gera

Auch am vergangenen Samstag beim Corona-„Spaziergang“ in Gera hatte sich eine Frau aus dem Unterstützerkreis des Veranstalters einen Davidstern umgehängt. Vanessa P. lief mit ihm in der ersten Reihe des Protestzugs durch die Geraer Innenstadt, zusammen mit ihrem Lebensgefährten David S., einem stadtbekannten Neonazi und Helfer von Reichsbürgern.

Die beiden liefen in einer Reihe mit dem Geraer Unternehmer Peter Schmidt als Organisator der Demonstration und dem thüringischen FDP-Vorsitzenden Thomas Kemmerich, der Hauptredner auf der Kundgebung war. Auch AfD-Politiker liefen mit. Schmidt zählt sowohl Vanessa P. als auch David S. zu seinem Freundeskreis. Er ist Funktionär des Wirtschaftsrates der CDU in Thüringen.

Wirtschaftsrat der CDU geht auf Distanz zu seinem Funktionär

Der Wirtschaftsrat der CDU - ein unabhängig von der Partei agierender Verein - ging am Dienstag auf Abstand zu Schmidt, der Landesvorstandsmitglied in Thüringen und Vorsitzender der Sektion Ostthüringen ist. Verbandssprecher Klaus-Hubert Fugger sagte dem Tagesspiegel: „Der Wirtschaftsrat erwartet von seinen Mitgliedern, dass sie sich von Extremisten von rechts und links distanzieren.“ Der satzungsrechtlich zuständige Landesverband Thüringen habe sich der Sache angenommen und eine Stellungnahme von Schmidt angefordert.

Weiter sagte Fugger: „Fakt ist: Herr Schmidt hat die Veranstaltung als Privatperson angemeldet und durchgeführt. Der Wirtschaftsrat distanziert sich eindeutig von deren Inhalten und den dort getätigten Äußerungen.“

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Kemmerich war am 5. Februar mit den Stimmen auch von AfD und FDP zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt worden, der Vorgang ging als „Dammbruch von Erfurt“ in die Parteiengeschichte ein. Kemmerich kündigte kurz nach seiner Wahl nach einer Intervention auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) seinen Rückzug als Regierungschef an.

Seit dem 4. März ist sein Vorgänger Bodo Ramelow (Linke) als Chef einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung wieder im Amt. Ramelow sagt zu dem Protest am Samstag in Gera: „Eine erkennbare Abgrenzung zu Antisemitismus oder Rechtsextremismus hat es nicht gegeben.“

Strack-Zimmermann: „Es wird immer schlimmer“

Wegen seiner Teilnahme an der Demonstration in Gera gibt es in der FDP erhebliche Kritik an Kemmerich. Parteichef Christian Lindner war am Sonntag auf Distanz gegangen. Bundesvorstandsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann legte ihm sogar den Austritt aus der Partei nahe.

Schmidt hatte seinen „Freund“ Kemmerich in Gera unter Beifall der Versammlung mit den Worten begrüßt: „Er war für einen Tag unser Ministerpräsident, bevor ihn ein Anruf einer machtgierigen Frau aus Südafrika gestürzt hat. Für mich ist er unser aktuell legitimer Ministerpräsident.“

Kemmerich widersprach der Vorstellung des Geraer Unternehmers nicht. Schmidt spielte damit auf Merkel angespielt, die sich aus Südafrika zur Wahl eines Ministerpräsidenten von AfD-Gnaden geäußert und gefordert hatte, diese rückgängig zu machen.

Strack-Zimmermann sagte am Dienstag dem Tagesspiegel dazu: „Es wird immer schlimmer. Wir werden das auf der Bundesvorstandssitzung besprechen. Wenn wir jetzt keine Konsequenzen ziehen, kommt das immer wieder.“ Ihre eigentlich für den 18. Mai angesetzte Bundesvorstandssitzung zog die Partei vor auf diesen Mittwoch. Für Parteichef Lindner scheint der Fall Kemmerich eine gewisse Eilbedürftigkeit zu haben.

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