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Protest gegen das Gütesiegel "Nachhaltig" für Atomkraft und Gas in der EU.

© Arne Dedert/dpa

Gütesiegel für Atomkraft und Gas: Rechtsexperte erwartet EuGH-Aus für die Taxonomie

Der Europavertrag verbietet die Regelung „wesentlicher Aspekte“ durch einen delegierten Rechtsakt der Kommission ausdrücklich. Eine Analyse.

Die Vorgaben der EU-Kommission für die Förderung von Atom- und Gaskraftwerken sind nach Einschätzung des EU-Experten Götz Reichert „rechtlich wirkungslos“. Im Falle einer Klage, die einige EU-Staaten bereits angekündigt haben, müsse der Europäische Gerichtshof (EuGH) sie für „nichtig“ erklären, sagt der Leiter der Abteilung für europäisches Energierecht am Centrum für europäische Politik (cep) im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Am Wochenende ist die Frist für die Stellungnahme der EU-Staaten zur so genannten Taxonomie abgelaufen. In ihrem Entwurf hat die Kommission Atomkraft als „nachhaltig“ eingestuft und ebenso Gaskraftwerke wegen ihrer Funktion als Brückentechnologie.

Diese Vorgehensweise ist ein Kompromiss zwischen zwei Lagern unter den 27 EU-Mitgliedern. Das eine setzt unter Führung Frankreichs auf Atomkraft, weil sie emissionsarm sei und helfe, die Klimaziele zu erreichen. Deutschland und weitere Staaten lehnen das Gütesiegel für Atomstrom ab, Luxemburg und Österreich haben eine Klage angekündigt.

Die Bundesregierung befürwortet es aber für moderne Gaskraftwerke. Die deutsche Versorgungsstrategie sieht den Ausstieg aus Atom und Kohle vor, setzt aber für eine Übergangszeit auf Gas, bis erneuerbare Energiequellen die Lücke füllen.

Klage wegen Kompetenzüberschreitung

Experte Reichert kommt in einer Studie, die am Dienstag veröffentlicht wird, zu dem Schluss: Die Klagen sollten nicht bei der Frage ansetzen, ob Atomstrom angesichts der ungelösten Probleme wie der Endlagerung nachhaltig sei. Die Kläger sollten einwenden, dass die EU-Kommission nicht berechtigt sei, über diese Einstufung in einem delegierten Rechtsakt zu entscheiden.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen muss zwischen Frankreich und Deutschland vermitteln, nutzt aber auch jede Gelegenheit zur Ausweitung ihrer Kompetenzen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen muss zwischen Frankreich und Deutschland vermitteln, nutzt aber auch jede Gelegenheit zur Ausweitung ihrer Kompetenzen.

© Michel Euler/Pool via REUTERS

Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verbietet die Delegation der Aufgabe an die Kommission durch das Europäische Parlament und den Europäischen Rat, das Gremium der nationalen Regierungen. Sie sei nur bei „unwesentlichen“ Fragen erlaubt, bei „wesentlichen Aspekten“ hingegen „ausgeschlossen“. Die EU-Kommission handele also jenseits ihrer Kompetenzen.

„Klagen gegen die EU-Klimataxonomie müssten viel grundsätzlicher ansetzen“ als beim Streit um Nachhaltigkeit, sagt Reichert. „Die Europäische Kommission konnte europarechtlich überhaupt nicht ermächtigt werden, über die politisch hochumstrittene Frage der ökologischen Nachhaltigkeit zum Beispiel von Atomkraft zu entscheiden."

"Über derart ,wesentliche’ Grundsatzfragen" erläutert Reichert, "darf, wenn überhaupt, allenfalls der EU-Gesetzgeber selbst – also Europäisches Parlament und Rat – befinden. Der Europäische Gerichtshof müsste daher bereits die entsprechende Entscheidungsdelegation auf die Kommission für nichtig erklären. Damit wäre automatisch auch ihre darauf basierende Einstufung von Atomenergie als ,ökologisch nachhaltig’ rechtlich wirkungslos.“

Kommission und Bundesregierung in der Klemme

Das hohe Risiko, dass der EuGH die Taxonomie stoppt, bringt die Kommission, aber auch die Bundesregierung in eine politische Klemme. Die Kommission steht vor der Wahl, ob sie sofort klein beigibt und ihren Vorschlag zurückzieht. Oder ob sie trotz der Einwände bei der Einstufung von Atomkraft und Gas als nachhaltig bleibt, was zu Klagen beim EuGH führt.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron argumentiert, Atomkraft sei klimafreundlicher als fossile Energieträger wie Gas.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron argumentiert, Atomkraft sei klimafreundlicher als fossile Energieträger wie Gas.

© Geoffroy VAN DER HASSELT/AFP

So oder so wäre es eine politische Niederlage, wenn ihr Versuch, ihre Zuständigkeit auszuweiten, scheitert. Die Wahrscheinlichkeit, dass der EuGH zu ihren Gunsten entscheidet, halten Reichert und weitere Experten für gering.

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Das sieht die Bundesregierung offenbar ebenso. In ihrer Stellungnahme konzentriert sie sich zwar auf Argumente, die gegen die Bewertung von Atomstrom als nachhaltig gelten und verteidigt das von ihr gewünschte Gütesiegel für moderne Gaskraft.

In einer Passage argumentiert sie jedoch wie Reichert: Die Kommission könne die Taxonomie nicht durch einen delegierten Rechtsakt vorgeben. „Angesichts der sehr grundsätzlichen und politischen Bedeutung der hier behandelten Fragen, wäre aus Sicht der Bundesregierung ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren und eine öffentliche Konsultation angemessen, weil dies angemessene Einflussmöglichkeiten der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments gewährleistet hätte.“

Ein Erfolg dieser Argumentation hat freilich zur Folge, dass die Bundesregierung das gewünschte Gütesiegel für Gas auch nicht bekommt.

Das Delegieren der Entscheidung glich einer Irreführung

Die Chancen, den Streit um die Nachhaltigkeit der Energiequellen in einem europäischen Gesetzgebungsverfahren zu klären, sind nicht sehr groß. Die Spaltung der EU in Lager pro und contra Atomkraft verhindert die notwendigen Mehrheiten in Parlament und Rat. Dann müssten die Atomgegner Farbe bekennen, ob ihnen das Gütesiegel für die eigene Energiestrategie so wichtig ist, dass sie, um Mehrheiten zu ermöglichen, auch das Gütesiegel für die andere Strategie mittragen, die sie offiziell ablehnen.

Deshalb waren die drei europäischen Machtzentren auf einen Ausweg verfallen, der prompt als Irreführung der Öffentlichkeit kritisiert wurde: Parlament und Rat delegieren die Aufgabe an die Kommission. Um einen delegierten Rechtsakt zu kippen, brauchen die Gegner eine qualifizierte Mehrheit. Die ist aber auch nicht in Sicht.

So bestand lange die Erwartung, dass alle Beteiligten durch die stillschweigende Duldung eines delegierten Rechtsakts der Kommission bekommen, was sie wollen: Frankreich und seine Verbündeten das Gütesiegel für Atomstrom. Deutschland und seine Partner das Gütesiegel für Gas.

Zugleich könnten alle behaupten, sie hätten nicht für den angeblich faulen Kompromiss gestimmt. Es habe nur leider die qualifizierte Mehrheit gefehlt, um ihn zu verhindern. Die angekündigten Klagen durchkreuzen dieses Kalkül.

Mit der Taxonomie macht die EU-Kommission keine Vorgaben, welche Energiequellen EU-Länder nutzen dürfen. Die Energiepolitik liegt in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Das Siegel als „grüne Energie“ hat aber finanzielle Folgen, weil es die Bereitschaft privater Investoren fördert, in diese Energien zu investieren. Und so Milliardeninvestitionen lenkt.

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