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Nicola Sturgeon hat sich als Mutter der schottischen Nation profiliert.

© Jeff MItchell,AFP

Trotz bescheidender Bilanz der Nationalpartei: Wie das U-Wort die Wahl in Schottland entscheidet

Das Streben nach Unabhängigkeit hat in Schottland wegen des Brexits wieder deutlich an Stärke gewonnen. Das kommt vor allem einer Partei zugute.

Einen Sieg hat Douglas Ross schon errungen. Mit hartnäckiger Überzeugungskraft schaffte es der Regionalvorsitzende der schottischen Konservativen, dem Chef der Gesamtpartei einen Wahlkampfbesuch im britischen Norden auszureden.

Denn dieser Chef heißt Boris Johnson, amtiert als Premierminister des Vereinigten Königreiches und ist in Schottland herzlich unbeliebt. Das wäre Gift gewesen für den Wahlkampf des 38-Jährigen, der sich ein schönes Ziel gesetzt hat: „Zweiter zu werden ist natürlich wichtig.“

Zweiter? Es gibt allerlei Kuriositäten vor der Abstimmung an diesem Donnerstag, an dem die Schotten neu über die Zusammensetzung ihres Edinburgher Regionalparlaments für die kommenden fünf Jahre befinden. Dazu gehört, dass alle Umfragen der seit 14 Jahren regierenden Nationalpartei SNP unter Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon einen klaren Sieg, womöglich sogar die absolute Mehrheit der Mandate vorhersagen. An einer durchschlagend erfolgreichen Politik kann das nicht liegen.

Nüchtern hat das Institut für Regierungsstudien (IfG) in London kürzlich die Bilanz der unterschiedlichen Landesteile aufgemacht. Pro Kopf der Bevölkerung geben Nordirland, Schottland (beide um 29 Prozent) und Wales (23) deutlich mehr Geld für die öffentliche Infrastruktur, vor allem das Gesundheitssystem NHS und Schulen, aus.

Bei allen aber liegt die Sterblichkeit für Patienten mit eigentlich gut behandelbaren Krankheiten höher als in England, dem weitaus größten Teil des Königreiches. Ebenso schneiden überall junge Leute in Mathematik und Naturwissenschaften schlechter ab als in England.

Die Bilanz der Nationalpartei ist nicht berauschend

In der Corona-Pandemie hat sich die Anwältin Sturgeon als Mutter der Nation profiliert und von Anfang an viel klarer und emphatischer kommuniziert als der Premierminister in London, dessen Ansagen ohnehin fast immer nur für England galten. Im Ergebnis aber steht Schottland kaum besser da als der Rest des Landes; der Erfolg des Impfprogramms beruht auf der Durchschlagskraft der von Johnson eingerichteten Arbeitsgruppe unter Kate Bingham, worauf Ross bei seinen Wahlkampfauftritten gern hinweist.

Dass Sturgeon und ihre Partei trotz ihrer höchstens durchwachsenen Regierungsbilanz auf einen unangefochtenen Sieg zusteuern, ist der Schwäche der Opposition geschuldet – und dem U-Wort.

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„Für eine Generation“ werde das Thema Unabhängigkeit vom Tisch sein, hieß es bei der SNP vor der Volksabstimmung 2014, bei der die Schotten der Loslösung von London mit 55 zu 45 Prozent eine Absage erteilten. Zwei Jahre später kam das Brexit-Votum. Der EU-Austritt habe die politische Lage total verändert, argumentiert Sturgeon nicht ganz zu Unrecht, zumal die Schotten mit 62-prozentiger Mehrheit im Brüsseler Club bleiben wollten.

Die strategische Neuausrichtung des Landes hängt dem Konservativen Ross im Wahlkampf ebenso wie ein Mühlstein um den Hals wie die Unpopularität des weißblonden Engländers in der Downing Street.

Womöglich müssen die Torys tatsächlich den zweiten Platz an die einst mächtige, jetzt schmächtige Labour-Party abgeben. Deren frisch gekürter Regionalchef Anas Sarwar, 38, gewann durch eine spontane Tanzeinlage im Wahlkampf Sympathien in den sozialen Netzwerken, prangert mit Erfolg die SNP-Versäumnisse bei der Armutsbekämpfung und im Gesundheitswesen an.

Ein neues Referendum könnte auf der Tagesordnung stehen

Freilich bleibt der Labour-Mann eine Antwort schuldig auf die Frage, wie sich seine Partei positionieren werde, wenn eine Mehrheit aus SNP und Grünen im künftigen Parlament ein neues Referendum auf den Weg zu bringen versucht.

In der Londoner Parteizentrale wird bereits über eine Frontbegradigung diskutiert: Wenn die Schotten tatsächlich mehrheitlich nochmals abstimmen wollten, könne man ihnen diese Option nicht verwehren und womöglich katalanische Verhältnisse heraufbeschwören. Hingegen stellt sich Premier Johnson bisher stur: London werde einer neuen Abstimmung keinesfalls das Plazet erteilen.

Einstweilen versuchen die Unionisten mit dem Schreckgespenst einer Wirtschafts- und Finanzkrise Stimmung gegen das Auseinanderreißen der seit 1707 bestehenden Union mit England zu machen: Nach der Unabhängigkeit könne sich Schottland nicht mehr auf die Finanzkraft Londons verlassen.

Was das konkret bedeutet, hat vergangene Woche Alison Rose, die Vorstandschefin des NatWest-Konzerns, verdeutlicht. Ihr Unternehmen sei in Sachen Unabhängigkeit neutral, teilte die Bankerin mit. „Wenn es dazu kommt, werden wir aber unsere Konzernzentrale von Edinburgh nach London verlegen.“ NatWest hieß bis zum vergangenen Jahr Royal Bank of Scotland; ist seit 294 Jahren in Edinburgh beheimatet und beschäftigt in Schottland mehrere Zehntausend Menschen.

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