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Zurückgelassen. Das Schicksal vieler Kinder ist ungeklärt.

© dpa

Alleinreisende Flüchtlinge in Europa: Wie können 10.000 Kinder einfach verschwinden?

Von mindestens 10.000 Kindern auf der Flucht fehlt nach ihrer Ankunft in Europa jede Spur. Die Polizeibehörde Europol glaubt, dass auch Menschenhändler dahinter stecken.

Es soll sich um eine zurückhaltende Schätzung handeln. Dramatisch klingt sie aber auch so schon. Mindestens 10.000 alleinreisende Flüchtlingskinder sollen nach den Angaben von Europol in den vergangenen 18 bis 24 Monaten nach ihrer Ankunft in Europa spurlos verschwunden sein. Allein in Italien seien nach Angaben der dortigen Behörden 5000 Kinder nicht mehr aufzufinden, in Schweden 1000. Die Staaten sind besorgt. Auch die Bundesregierung hat am Montag angekündigt, deswegen mit der europäischen Polizeibehörde Kontakt aufzunehmen und der Sache nachzugehen.

Woher nimmt die Polizeibehörde die Zahlen?

Grundlage seien nach Angaben von Europol Berichte aus Mitgliedsstaaten, von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und weiteren internationalen Organisationen. Europol wolle die Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenken, sagte ein Sprecher. Die Behörde dränge Polizeichefs und NGOs, die Gefahr wahrzunehmen und angemessen zu reagieren. Dazu gehöre auch, Informationen mit Europol zu teilen. Detaillierte Auskünfte zur Situation in einzelnen Ländern über die schon bekannten Daten zur Situation in Italien und Schweden hinaus gab der Sprecher allerdings nicht.

Warum sind so viele unbegleitete Minderjährige auf der Flucht?

Die Gründe dafür, dass Kinder und Jugendliche allein fliehen, sind vielfältig. Weltweit sind aktuell mehr Menschen denn je seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht, 60 Millionen. Der Bundesverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge verweist darauf, dass auf der Flucht, aber auch in den Kriegen, die sie auslösen, immer mehr Familien versprengt werden, sie werden getrennt oder die Erwachsenen kommen ums Leben. Oft fehlen den Familien auch die Mittel, allen die Flucht zu ermöglichen – dann fällt oft die Wahl auf die Kinder. Es gibt aber auch besondere Gründe, die Jugendliche zur Flucht zwingen. In den vier Hauptherkunftsgebieten junger Flüchtlinge – neben Afghanistan, Irak, dem Horn von Afrika und Syrien – werden sie von Regierungen wie Milizen zwangsrekrutiert. Viele fliehen auch vor Zwangsverheiratung oder sexueller Gewalt.

Wieso können Flüchtlingskinder einfach verschwinden?

Oft hat das strukturelle und logistische Gründe. Tobias Klaus vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge rät zur Vorsicht bei der von Europol genannten Zahl. „Das Problem gibt es und es ist besorgniserregend, die Zahl 10 000 hält aber nur fest, wer registriert wurde und nachher nicht mehr in der Obhut der Behörden war.“ Viele Minderjährige, die in Griechenland und Italien registriert würden, wollten zu Verwandten oder Freunden in andere EU- Länder. Das sehe zwar auch die Dublin-Verordnung so vor, aber Europa habe in vielen Staaten ein „Vollzugsproblem“, es gebe noch zu wenig Zusammenarbeit.

Für Deutschland ist nach Einschätzung der internationalen Kinderrechtsorganisation Save the Children möglicherweise die neue Umverteilungsregelung ein Problem. „Es ist durchaus möglich, dass sich unbegleitete Minderjährige in einer Region wiederfinden, in der sie keinerlei familiären oder freundschaftlichen Kontakt haben“, sagt Sprecherin Claudia Kepp. Dies könne dann dazu führen, dass Kinder diese Region wieder verlassen, um zu ihren Freunden, ihrer Familie zu gelangen – und somit in der offiziellen Statistik verloren gehen.

Welche Rolle spielt die Kriminalität?

Laut Europol ist für Migranten und speziell unbegleitete Minderjährige das Risiko besonders hoch, ausgebeutet und missbraucht zu werden. Die Behörde wisse aber nicht, wie viele der verschwundenen Kinder und Jugendlichen in die Fänge von Kriminellen geraten seien. Das sei eine der besorgniserregenden Begleiterscheinungen der Flüchtlingskrise, sagte der Sprecher. Er machte deutlich, dass Europol die Bevölkerung in der EU sensibilisieren wolle.

Die Kinder seien in großer Gefahr, Opfer von Ausbeutung, Handel und anderen Formen von Missbrauch zu werden, heißt es zum Beispiel auch bei Save the Children. Die Zahlen von Europol zeigten die riesigen Lücken im Kinderschutzsystem entlang der ganzen Flüchtlingsroute.

Wie lässt sich das Problem lösen?

„Unbegleitete Flüchtlingskinder fliehen vor Konflikten und nehmen eine lebensgefährliche Reise auf sich, um Schutz in Europa zu finden und nicht, um durch die Lücken im europäischen System zu fallen“, sagt Claudia Kepp, Sprecherin von Save the Children. Deshalb müssten die Staaten in Europa intensiver zusammenarbeiten. Das sieht man bei Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, ähnlich. Vor allem bei der Registrierung gebe es nach wie vor erheblichen Verbesserungsbedarf, sagt Ninja Charbonneau, Sprecherin von Unicef Deutschland. Das gelte nicht zuletzt für die Qualifikation des Behördenpersonals. Denn es komme darauf an, eine besondere Schutzbedürftigkeit überhaupt zu erkennen.

Wie sieht die Situation der Kinder in Deutschland aus?

Das Bundeskriminalamt führt in einer Arbeitsdatei mit Stichtag 1. Januar 2016 insgesamt 4718 verschwundene, minderjährige Flüchtlinge auf. 431 sind Kinder, 4287 Jugendliche, also im Alter von 14 bis 17 Jahren. Die Daten basierten auf polizeilichen Vermisstenanzeigen, sagte eine Sprecherin des BKA. Die Anzeigen würden allerdings nicht nur von Eltern erstattet. Häufig meldeten sich Sozialbehörden oder die Betreiber von Flüchtlingsunterkünften bei der Polizei, wenn Kinder und Jugendliche nicht mehr anzutreffen sind. Das BKA bewertet die Zahlen der Verschwundenen allerdings mit besonderer Vorsicht und nennt die Statistik nur Arbeitsdatei. Vermutlich gebe es „Doppelerfassungen“, sagte die Sprecherin. Hinweise auf Menschenhandel und andere kriminelle Aktivitäten, die gezielt auf unbegleitete Minderjährige zielen, hat das BKA offenbar nicht.

Gibt es Erkenntnisse über die Lage in Berlin?

Bei der Berliner Polizei heißt es, da die Zahl der Flüchtlinge weiter steige, nehme zwangsläufig die der als vermisst gemeldeten Minderjährigen zu, doch Anhaltspunkte auf Kinderprostitution gebe es aktuell nicht. Trotzdem sind die Behörden alarmiert, seitdem der vierjährige Mohammed im Oktober 2015 vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales entführt wurde. Offiziell sind allein im vergangenen Jahr 13 322 Kinder in Berlin angekommen, davon waren 6367 schulpflichtig. Konkret vermisst wird derzeit keines.

Grundsätzlich ist es so: Wenn ein Jugendlicher aus den Berliner Erstaufnahmeeinrichtungen eigentlich in ein Heim nach Brandenburg gemusst hätte, dort aber nicht ankommt, taucht er oft in Berlin unter. Immer wieder werden Jungen, die in bestimmten Einrichtungen erwartet werden, in anderen Heimen oder bei Bekannten bemerkt. Und oft geschieht dies erst nach Monaten.

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