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Wirtschaftspapier provoziert die Ampel: Lindner sucht den Notausgang
Finanzminister Christian Lindner will eine grundsätzlich andere Finanz- und Wirtschaftspolitik als seine Ampel-Partner. Für den Kanzler kann das eine Chance sein.

Stand:
Verwunderlich ist nicht so sehr das Papier selbst, sondern der Zeitpunkt. Christian Lindner hat ein grundsätzliches wirtschaftspolitisches Papier geschrieben (oder schreiben lassen). Das war zu erwarten. Seine beiden sogenannten Koalitions-„Partner“ Grüne und SPD waren schon etwas früher dran. Der Finanzminister war also herausgefordert, seit Tagen.
Und jetzt das. Dieses Papier kann als Scheidungspapier gelesen werden. Es finden sich fast keine Punkte darin, bei denen eine Einigung der Koalitionäre vorstellbar ist – und schon gar keine schnelle. Höflich formuliert: Es ist für jeden eine ordentliche politische Stinkbombe dabei.
Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen bekommt für seine Klimapolitik eine Menge Kritik ab. Lindners Forderungen sind in vielen Teilen das Gegenteil dessen, wofür Habeck steht. Auch Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD müsste seine Politik um 180 Grad wenden, denn Lindner will massive Veränderungen bei Bürgergeld und Rente.
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Nicht alles, was in Lindners Papier steht, ist deshalb gleich falsch. Im Gegenteil: Die Frage, ob der Staat seine begrenzten Mittel richtig einsetzt, ist absolut nachvollziehbar.
Stinkbomben gegen die eigenen Koalitionspartner
Nur geht es hier längst nicht mehr um Inhalte. Es geht einzig und allein um die Frage: Wer kommt einigermaßen schadenfrei aus der Ampel raus. Alle drei Parteien stehen in den Umfragen schlecht da, aber für die FDP mit ihren derzeit vier Prozent ist die Frage nach dem Ampel-Exit geradezu existenziell. Lindner sucht den Notausgang.
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Taktisch betrachtet ergibt das Papier durchaus Sinn. Lindners scheinheilige Schutzbehauptung, dass es nur für die kleine Koalitionsrunde gedacht gewesen sei, hätte er sich sparen können.
Denn es mag für den Kanzler und die Haushaltsgespräche geschrieben worden sein, Adressat ist aber ist ganz eindeutig: die Öffentlichkeit. Vor allem seine eigene Partei. Lindner kann damit ab jetzt selbstbewusst wedeln und selbst bei einer Einigung sagen, er und die FDP stünden ja erwiesenermaßen für viel tiefgreifendere Maßnahmen. Aber mehr sei eben mit SPD und Grünen nicht möglich.
Seit Monaten steht für die Ampel alles auf dem Spiel. Zu diesem Zeitpunkt, kurz vor den finalen Haushaltsgesprächen, solche grundsätzlichen Überlegungen zu formulieren, ist wohlkalkuliert. Lindner geht aufs Ganze.
Und dennoch: Ein Ampel-Aus bleibt für alle drei Parteien mit einem hohen Risiko verbunden. Dass die Anhänger der FDP vor lauter Erleichterung dann wieder zu ihrer Partei stehen, ist nicht ausgemacht. Denn der Vorwurf der Verantwortungsflucht wiegt schwer.
Die Grünen sind in ihrer Führung noch nicht sortiert, der Kurs noch nicht ganz klar. Und die SPD müsste mit dem Makel eines gescheiterten Kanzlers in eine kurzfristige Wahl ziehen.
Deshalb dürfte es jetzt sehr darauf ankommen, ob Olaf Scholz die Kraft hat, die Fliehkräfte in seiner Koalition ein letztes Mal zusammenzuhalten. Er dürfte ein hohes Interesse haben. Oder er geht ins ganz große Risiko. Nutzt die Steilvorlage der FDP und versucht sich in einer Minderheitsregierung mit den Grünen.
In dieser Konstellation einen Haushalt durchzubringen, der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, einen möglichen geopolitischen Machtwechsel mit Blick auf die anstehenden US-Wahlen zu meistern und die eigenen Reihen beisammen zu halten, ist keine einfache Aufgabe.
Einen Vorteil hätte die Lage für Scholz: Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz müsste sich schnell entscheiden zwischen Total-Opposition und Verantwortung.
Der „Herbst der Entscheidung“ könnte nun tatsächlich in seine finale Phase biegen – noch bevor der erste Schnee fällt. Die Ampel würde ihre Probleme durch Auflösung überwinden. Die großen wirtschaftspolitischen Probleme blieben aber ungelöst. Im Gegenteil. Das Lindner-Papier hätte ihre Lösung nur noch weiter in die Zukunft geschoben.
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