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Europas Zukunft? Fünf Jahre musste Emmanuel Macrons nach seiner Rede an der Sorbonne auf eine deutsche Antwort warten. Der Ukrainekrieg, das zeigt Olaf Scholz' Rede in Prag, hat das Denken in Berlin und Paris angenähert.

© Foto: Michael Kappeler/dpa

Scholz' Europa-Rede: Zeitenwende auch für die EU

In Prag fordert der Kanzler ein Umdenken ein, dem Deutschland früher oft im Weg stand. Das gilt besonders für die gemeinsame Sicherheitspolitik. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Peinlichkeit hat am Ende doch noch etwas Gutes. Gewiss bleibt es ein Fehler, dass Emmanuel Macron fünf Jahre lang auf eine adäquate deutsche Antwort auf seine Europa-Rede an der Sorbonne 2017 warten musste.

Aber hätten erst Angela Merkel und dann Olaf Scholz ihm vor dem Ukraine-Krieg überhaupt Substanzielles angeboten? So wie die große Koalition, aber auch die deutsche Öffentlichkeit die Welt damals sah, übersetzten sie Macrons Ruf nach einem stärkeren Europa als Wunsch, die EU zu einem Vehikel französischer Politik zu machen, und nach mehr Geld aus deutschen Kassen.

Eine geostrategische Rolle der EU gehörte nicht zu Berlins Prioritäten. Die Vorbereitung auf handfeste Konflikte mit Russland und China auch nicht.

Wladimir Putins Angriff hat das geändert. Drei Tage drauf verordnete Scholz zunächst Deutschland eine Zeitenwende. In seiner Rede in Prag proklamiert er die für ganz Europa.

Militär ist nicht alles, aber dort sind die Defizite am größten

Hier wie dort stehen Sicherheit und Wehrhaftigkeit im Zentrum. Hier wie dort ist die erste Vorbedingung ein umfassendes Umdenken. In der Vergangenheit galt Europas Integration als ein nach innen gerichtetes Friedensprojekt. Damit hat die EU Bewundernswertes für ihre Bürgerinnen und Bürger erreicht.

Doch wenn sie Freiheit, Sicherheit und Demokratie bewahren will, muss sie zu einer geopolitisch handlungsfähigen EU werden, die Unabhängigkeit und Stabilität auch nach außen sichern kann. Und die Autokraten mit glaubwürdiger Abschreckung zwingt, sie ernst zu nehmen.

Rede vor historischer Kulisse: Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität in Prag.
Rede vor historischer Kulisse: Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität in Prag.

© Kay Nietfeld/dpa

Militär ist nicht alles. Aber weil Deutschland und viele westliche EU-Partner das in Friedenszeiten vernachlässigt haben, sind dort die Defizite am größten.

Viele Nationalstaaten können das Nötige alleine nicht mehr leisten. Die EU kann es noch nicht, weil ihre Mitglieder sich nicht effektiv absprechen und ihre Ressourcen nicht bündeln. Scholz möchte einen eigenständigen Rat der EU-Verteidigungsminister einrichten, eine europäische Luftabwehr aufbauen und die Wehrindustrie besser koordinieren.

Warum nicht gemeinsam Gas kaufen wie vorher Impfstoffe?

In früheren Jahren stand Deutschland selbst oft genug dem Umdenken im Weg, das Scholz nun fordert. Vor dem Krieg wollte Josep Borrell, EU-Beauftragter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, der Ukraine beim Training ihrer Soldaten helfen, wie das die USA taten.

Berlin lehnte ab. Das sei eine unnötige Provokation Russlands. Jetzt bietet der Kanzler viel weiter gehende Militärhilfe an, darunter eine dauerhafte Verantwortung für die Artillerie und Luftverteidigung der Ukraine.

Mehr zum Ukraine-Krieg und den Akws bei Tagesspiegel Plus:

Dieser pragmatische Ton, der nicht luftige Wunschvorstellungen von einem einigen Europa predigt, das tatsächlich ziemlich uneinig ist, sondern eine realpolitische „Solidarität der Tat“ anstrebt, gibt der Prager Rede ihre Bedeutung. Die Bürger erwarten eine EU, die liefert. Sie haben ein Gespür, was funktioniert, und ein Gedächtnis für leere Versprechen.

Die EU hat in verschiedenen Feldern teils schnell gelernt, teils quälend langsam, teils gar nicht. In der Pandemie hat sie nach Anfangsfehlern den gemeinsamen Einkauf von Impfstoffen begonnen, weil so ihre Marktmacht zum Tragen kommt. Warum nicht jetzt bei Gas?

Keine Erweiterung ohne Abschaffung des Vetorechts

In der Corona-Rezession hat sie ein Aufbauprogramm beschlossen und erstmals gemeinsame Schulden aufgenommen. In der Asyl- und Migrationspolitik sowie der Sicherung des Rechtsstaats ist sie zerstritten und findet keine wirksamen Mittel.

Ein Kernproblem sind die Entscheidungsmechanismen der EU. Wenn sie weitere Länder aufnehmen und auf mehr als 30 Mitglieder wachsen soll, muss der Zwang zur Einstimmigkeit in allen wichtigen Bereichen fallen.

Nicht jedes Land darf ein Vetorecht haben. Das nämlich eröffnet China und Russland bereits jetzt die Chance, die EU durch Einflussnahme zu blockieren.

Da hätte Scholz deutlicher werden dürfen. Es genügt nicht, den schrittweisen Übergang zu mehr Mehrheitsentscheidungen anzumahnen. Ohne innere Reform werden seine Europa-Pläne kaum Realität werden. Sie gehört zum Kern der Zeitenwende.

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