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Das menschliche Gehirn nimmt Informationen selektiv auf.

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Zwei Nachrichten, die untergingen: Weil wir uns erregen wollen, muss unsere Aufmerksamkeit erregt werden

Haben Sie's gewusst? Die Strahlenschäden von Tschernobyl wurden nicht vererbt. In der ersten Coronawelle wurden vielerorts weniger Suizide verübt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Menschen filtern Informationen. Sie nehmen wahr, was ihr Weltbild bestätigt, und blenden aus, was ihr Weltbild gefährdet. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das Internet hat, dieser Theorie zufolge, die Abkapselungstendenz verstärkt. Es ist noch leichter geworden, unter Seinesgleichen zu bleiben, sich in einer „bubble“ zu bewegen, in einer Echokammer zu kommunizieren.

Wenn es dann doch zu einem Kontakt mit der Gegenseite kommt, wird es schnell derb. Rechthaberei ersetzt Neugier, auch wenn es um Prognosen geht, die aus einem „gesunden Menschenverstand“ zu resultieren scheinen. Lieber werden verbale Hiebe verteilt, als Argumente ausgetauscht.

Das Horrorszenario blieb aus

Zwei Meldungen aus der allerjüngsten Zeit sind fast unbemerkt geblieben. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass sie unbemerkt bleiben sollten. Die erste lautet: Strahlenschäden wurden nicht vererbt.

Vor 35 Jahren explodierte Block 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl in der Ukraine. Die Folgen waren verheerend. Die Bewohner waren starker radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Ebenso Zigtausende Katastrophenhelfer, die sogenannten Liquidatoren. Es kam vermehrt zu Krebs und Leukämie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schäden am Nervensystem. Außerdem traten in erheblicher Zahl Genmutationen auf.

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Für die Antiatomkraftbewegung war klar, dass solche Mutationen vererbbar sind. In einem 80-seitigen Report über die „Gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl“, veröffentlicht (im April 2006 aus Anlass des 20. Jahrestages der Katastrophe, heißt es: „Die Erbgutveränderungen bei Kindern von Liquidatoren und Menschen, die in belasteten Gebieten leben, werden zu einer Belastung künftiger Generationen führen, deren Umfang man überhaupt noch nicht abschätzen kann.“ Die Häufung von Erbgutveränderungen zeige, dass diese an die Nachkommen weitergegeben würden.

„Wer die Wahrheit nicht weiß, ist nur ein Dummkopf"

Herausgegeben wurde die Analyse von der „Gesellschaft für Strahlenschutz e.V.“ und der „Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“. Sie endet mit einem Zitat von Bertolt Brecht aus „Galileo Galilei“: „Wer die Wahrheit nicht weiß, ist nur ein Dummkopf. Aber wer sie kennt und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“

Die drei Affen: nichts reden, nichts sehen, nichts hören.
Die drei Affen: nichts reden, nichts sehen, nichts hören.

© Getty Images/iStockphoto

Nun haben Wissenschaftler vom amerikanischen „National Cancer Institute“ herausgefunden, dass die Strahlenschäden nicht vererbt wurden. In der Fachzeitschrift „Science“ berichten sie, dass bei den Kindern und Enkeln der Überlebenden von Tschernobyl keine überdurchschnittliche Zunahme von Erbkrankheiten und Mutationen zu verzeichnen sind. Das Horrorszenario einer erbgeschädigten nachfolgenden Generation ist ausgeblieben. Zum Glück.

[ Ein Thema, das nach wie vor die Menschen beschäftigt: Impfungen. Verschaffen Sie sich einen Überblick über Gebote und kleine Tricks bei der Suche: (T+) Der Weg zum Impftermin in Berlin: Ich möchte mich impfen lassen - was kann ich tun? ]

Die zweite Nachricht lautet: Zumindest in der ersten Welle der Corona-Pandemie ist die Zahl der Suizide nicht gestiegen, sondern in mehreren Industrienationen rückläufig gewesen. Im März 2020 hatte die „Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde“ vor tödlichen Folgen eines Lockdowns gewarnt. Die Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 könnten gefährlicher sein als das Virus selbst. Durch Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen könnten Menschen in den Suizid getrieben werden, prognostizierten auch Epidemiologen. Dass die Medizin schlimmer sei als die Krankheit, verbreiten Lockdown-Gegner bis heute.

Einige Prognosen erwiesen sich als falsch

Zweifellos verursachen die Anti-Corona-Maßnahmen negative soziale Phänomene. Sie umfassen häusliche Gewalt, Kindesmisshandlungen, psychische Erkrankungen, Vereinsamung, Suchtmittelkonsum. Das darf nicht kleingeredet werden.

Prognosen über einen rapiden Anstieg von Suiziden erwiesen sich indes als falsch. Wissenschaftler der „University of Melbourne“ haben - gemeinsam mit einem internationalen Team, darunter Forscher der Universitätsmedizin Leipzig - die Daten aus 21 Industrienationen ausgewertet und die Ergebnisse soeben in der Fachzeitschrift „The Lancet Psychiatrie“ veröffentlicht. Demnach sank die Zahl der Suizide zwischen April und Juli 2020 in den Industrienationen um bis zu zehn Prozent. Regionale Zahlen aus Deutschland kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Für die Monate April und Mai 2020 meldete das Bundesland Nordrhein-Westfalen einen Rückgang um 20 Prozent. Für die Monate Januar bis Juli 2020 verzeichnete Frankfurt am Main einen Rückgang um 30 Prozent. In der Stadt Leipzig blieben die Zahlen während der ersten Lockdown-Phase im Vergleich zum Vorjahr konstant.

Thesen allein sind kein Beweis

Vor voreiligen Schlüssen sei gewarnt. Die Daten sind eine Momentaufnahme und könnten sich seitdem verändert haben. Bundesweite Vergleichszahlen fehlen noch. Viele Probleme haben sich durch Arbeitslosigkeit, Existenzängste, Dauer der Isolation und zu wenige Therapieangebote verstärkt.

Dennoch gilt auch in diesem Fall – wie bei den Mutmaßungen über vererbbare Strahlenschäden nach Tschernobyl: Thesen allein sind kein Beweis. Wer nicht offen bleibt für Überraschendes, verringert die Chancen, klüger zu werden.

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