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Potsdamer Migrationsexperte über Probleme und Chancen: "Die Zustände im Berliner Lageso sind ein Skandal"

Der Potsdamer Migrationsexperte Peter Knösel spricht im PNN-Interview über schlechtes Krisenmanagement in der Flüchtlingskrise, Obergrenzen und gelungene Integration. Er erwartet, dass Deutschland in zehn Jahren durch Flüchtlingsbewegungen einen Teil seines demografischen Problems gelöst haben wird. Das Land könnte dann ökonomisch sogar besser dastehen als heute.

Stand:

Herr Knösel, was kann eine Hochschule wie die FH Potsdam in der aktuellen Flüchtlingskrise ausrichten?

Die Hochschule muss sich einmischen. Flüchtlinge, die in Not sind, verdienen die Unterstützung unseres Fachgebietes, der Sozialen Arbeit. Es geht in erster Linie aber auch darum, Vorurteile zu widerlegen, etwa dass alle Flüchtlinge zu uns kommen. Hier muss man die Fakten nennen, nämlich dass die Türkei, Jordanien und der Libanon von den 5 Millionen Flüchtlingen bereits 3,5 Millionen aufnehmen. Andererseits muss man auch klar benennen, dass die Verteilung der Flüchtlinge eine Aufgabe des Landesaufnahmegesetzes ist, die Kommunen können sich das nicht aussuchen. Das ist eine Pflichtaufgabe nach Weisung. Das muss die jeweilige Kommune ertragen.

Ihre Einschätzung zur aktuellen Lage in Deutschland?

Wir haben einerseits klare rechtliche Regelungen, die aber anderseits durch die faktische Macht der Menge wieder außer Kraft gesetzt werden. Eigentlich kommen Flüchtlinge in die zentrale Aufnahmeeinrichtung, haben dort nach zwei Tagen ein Interview und nach zehn Tagen gibt es eine Entscheidung. Angesichts der hohen Zahl an Menschen funktioniert das nun nicht mehr. Flüchtlinge werden meist gar nicht registriert, Aufnahmeeinrichtungen sind überfüllt und die soziale Versorgung funktioniert nicht. Die Zustände im Berliner Lageso sind ein Skandal. Dass die Menschen mit ihren Kindern hier tagelang unter freiem Himmel warten müssen, bei Regen und Schnee, geht nicht. Faktisch bewältigt die drittgrößte Industrienation der Welt das Verfahren nicht gut.

Was muss anders laufen?

Ich wundere mich, dass die Flüchtlinge nach fünf Monaten erst auf den ehemaligen Flughafen Tempelhof kommen, und das nicht richtig organisiert ist. Da braucht man unter anderem winterfeste Zelte für 30 000 Menschen, dann müssen die Menschen eine Kita, eine Schule, Willkommensklassen, Ernährung, sanitäre und Gesundheitseinrichtungen haben. Dass eine Wirtschaftsmacht wie Deutschland das nicht schafft, kann ich mir nicht vorstellen. Normalerweise haben wir nach drei Monaten für viele andere Probleme eine Lösung. Dann muss man eben zum Beispiel 100 000 Container kaufen und die mit Fenstern versehen oder private Unterkünfte unbürokratisch zulassen.

Die Krise ist also gar keine?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in zehn Jahren, wenn wir zwei oder drei Millionen Menschen aufgenommen haben, einen Teil unseres demografischen Problems dadurch gelöst haben – und dass wir dann ökonomisch sogar besser dastehen als heute. Das wird uns dann vielleicht 50 oder 100 Milliarden Euro gekostet haben. Aber die Folgeerträge werden ein Vielfaches über diesen Ausgaben liegen.

Was meinen Sie konkret?

Ich gehe davon aus, dass in zehn Jahren die Flüchtlinge bei uns die Arbeitslosenquote unten halten werden. Wer soll denn sonst im Gesundheitsbereich und den Versorgungseinrichtungen arbeiten, wenn uns der eigene Nachwuchs fehlt, und die Gesellschaft immer älter wird? Wer ist denn bei uns heute noch Maler, Maurer, Mechatroniker, Arzthelfer? Zehn Prozent der Hauptschüler schaffen den Abschluss nicht, die Betriebe suchen händeringend nach Auszubildenden. Bei vielen Flüchtlingen ist die Mentalität eine ganz andere. Ich erlebe junge Syrier, die abends noch freiwillig Hausarbeiten – neben der Lehre oder der Schule – erledigen und nach einem Dreivierteljahr sich schon leidlich gut auf Deutsch verständigen können.

Handelt Europa richtig?

Europa muss moralisch, politisch und ökonomisch zu seiner Verantwortung kommen. Doch hier versagt man derzeit: Länder wie Portugal nehmen bei vier Milliarden Euro Gesamtzuwendungen der EU nur 600 Flüchtlinge auf, Polen bei zwölf Milliarden Euro nur 3000 Flüchtlinge. Es gibt hier ganz offensichtlich eine Diskrepanz zwischen den finanziellen Leistungen der EU und einer politischen Verantwortung für alle. Als Erstes ist Europa gefordert, auch die Briten und Irland. Wir brauchen Solidarität und Verteilung.

Wie könnte die Verteilung klappen?

Es muss darauf hinauslaufen, dass die Flüchtlinge wählen können, in welche EU-Staaten sie gehen, und dass diese dann eine Pauschalsumme pro aufgenommenen Flüchtling von der EU erhalten. Wenn die Flüchtlinge nicht in osteuropäische EU-Länder gehen wollen, in denen sie nicht willkommen sind, dann bekommen eben Schweden, Österreich oder Deutschland das Geld.

Und außerhalb der EU?

In der Türkei koordiniert und unterstützt der UNHCR die Flüchtlinge. Er braucht 50 Dollar im Monat, um einen Flüchtling zu ernähren. Das Geld hat er nicht, weil die Welt angeblich nicht genug Mittel zur Verfügung hat – während Länder wie Dubai und Katar im Geld ertrinken. Die Rationen wurden vor rund neun Monaten auf 15 Dollar pro Monat heruntergefahren. Jetzt sind da rund 400 000 Menschen, die der Hunger treibt. Die machen sich natürlich auf in die EU-Länder.

Die Lösung?

Die ist ganz klar: der Libanon, die Türkei und Jordanien müssen mit großen Summen unterstützt werden, damit die Flüchtlinge, die dort bereits leben, dort auch bleiben können. Es muss eine solche humanitäre Lösung geben, die Entscheidung des Sondergipfels Ende November war ein erster Schritt dazu. Erschwerend kommt aber im Nahen Osten der Kampf gegen den IS hinzu. Die politischen Ursachen zu beseitigen ist eine Mammutaufgabe für die kommenden Jahre.

Obergrenzen...

...das geht gar nicht. Die Grenzen zu schließen würde Grundrechte und EU- Verträge verletzen. Der Artikel 16a Absatz 1 GG des Asylrechts – politisch Verfolgte genießen Asylrecht – verträgt sich nicht mit einer klar definierten Obergrenze. Wenn wir nun 300 000 Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen und die Grenzen abriegeln würden, wäre das eine faktische Obergrenze. Dazu muss man aber sagen, dass sich das nicht durchsetzen lassen wird, denn die 6000 Kilometer Außengrenzen lassen sich nicht komplett überwachen.

Es wird auch nicht allein bei Flüchtlingen aus Syrien bleiben. Muss man nicht eine Überforderung der Gesellschaft befürchten, gerade auch bei der Integration?

Eins ist klar: Jährlich 800 000 oder eine Million Flüchtlinge für die kommenden fünf Jahre, das wird in Deutschland nicht funktionieren. Ich denke, es gibt eine objektive Grenze im öffentlichen Leben, bedingt durch die Administration und eine gesellschaftliche Grenze, die aber niemand kennt, weil sie von verschiedenen Faktoren abhängig ist. Es wird einen weltweiten Politikwechsel in den Industrieländern geben müssen und es wird nachhaltige Infrastrukturprojekte in den Krisenländern geben müssen, ohne dass dabei fragwürdige Machthaber unterstützt werden. Im nördlichen Afrika gibt es riesige unbewohnte Landstriche. Hier könnte man Wasserkraftwerke bauen und Plantagen anlegen, um Lebensräume zu schaffen.

Neben Mitgefühl und Hilfe gibt es zunehmend auch Ängste, Sorgen und Ablehnung in der Bevölkerung.

Sorgen und Ängste verstehe ich gut. Es hilft Information. Vorurteile können widerlegt werden. Offen rassistische und rechtsradikale Taten müssen bestraft werden. Wenn erst einmal 300 Rechtsradikale in den Gefängnissen sitzen, wird sich die Spreu leichter vom Weizen trennen lassen. Auch werden mittlerweile viele Unwahrheiten in die Welt gesetzt, um Ängste zu schüren. Da wird behauptet, dass Flüchtlinge nur Markenkleidung tragen wollen, Frauen vergewaltigen und kriminell sind. Ein Großteil dieser Aussagen ist falsch, das ist Propaganda.

Ihr Gegenmittel?

Hier ist es ganz wichtig, dass die Menschen miteinander in Kontakt kommen, es braucht die Begegnung, um Vorurteile zu entkräften. Die Willkommenskultur in Deutschland spielt dabei eine überragende Rolle. Auch sollte man mit Fakten argumentieren: Wir hatten 1995 rund 360 000 bosnische Flüchtlinge in Deutschland, davon waren 2001 gerade noch 20 000 im Land. Der Rest kehrt eben doch in seine Heimat zurück, wenn das wieder möglich ist. Das ist leider so, denn die Menschen brauchen wir eigentlich, in den Schulen, Hochschulen und auf dem Arbeitsmarkt.

Gegner führen ins Feld, dass kulturelle und religiöse Unterschiede zwischen den Flüchtlingen und der deutschen Gesellschaft zu groß seien.

Das sind doch nur vorgeschobene Argumente. Ich wohne doch lieber neben einem netten Menschen aus Singapur oder Kamerun als neben einem Neonazi, der mit einem Hitlerbärtchen auf Facebook posiert. Die Mehrheit der Zugewanderten stammt aus christlichen Ländern. Nicht jeder Flüchtling aus einem muslimisch geprägten Land hat selber etwas mit Religion am Hut. Manchen ist die Religion egal oder sie lehnen religiöse Differenzen ab, gerade aus den Erfahrungen in ihrem Heimatland.

Integration kommt aber nicht von alleine.

Selbstverständlich nicht. Wir brauchen ein tragfähiges Integrationskonzept, das auf einem Verfassungspatriotismus beruht – also darauf, dass die Menschen sich auf unsere verfassungsrechtlich verbrieften Rechte und Werte berufen und unsere Sprache sprechen. Das Konzept sollte ein laizistischer Staat sein, in dem jeder seine Religion ausüben kann, die Verfassung aber die Grundlage ist, es geht beispielsweise um die Gleichstellung von Mann und Frau, Religionsfreiheit, die Absage an Gewalt sowie Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Das wird nun zum Beispiel bei den Jugendhilfeträgern den jungen Flüchtlingen beigebracht. Von einer Verpflichtungserklärung halte ich gar nichts. Die wird entweder geteilt oder nicht, wer sie nicht teilt, unterschreibt trotzdem. Auf die gelebte Demokratie kommt es an.

Das reicht aus?

Das ist ein Anpassungsprozess, nehmen sie die Geschichte der Ruhrpolen, in der ersten Generation traf man sich noch und sang gemeinsam die Lieder der Heimat, in der zweiten Generation traf man sich schon seltener und in der dritten Generation hießen die ehemaligen Polen Schimanski und wurden zum Tatort-Helden. Heute heißen sie Podolski und sind deutscher Fußballweltmeister. Solange wir es schaffen, dass 80 oder 90 Prozent der Zugewanderten eine Arbeit haben und integriert sind, haben wir viel gewonnen. Damit geben wir der Jugend ein Ziel. Die Menschen müssen das in der Nachbarschaft, Kita, Schule und an den Hochschulen lernen. Da müssen wir uns noch viel breiter aufstellen. Dafür wird es große Programme geben, wir werden viel Geld in die Ausbildung stecken müssen.

Die Polen konnten sich aufgrund ihrer katholischen Wurzeln gerade im Ruhrgebiet recht einfach integrieren. Kritiker erwarten nun aber, dass dies für Muslime ungleich schwieriger werden dürfte.

Muslimischer Glauben ist so breit, wie Gesellschaft überhaupt sein kann. Deshalb gilt es zu differenzieren: Es gibt verschieden intensive religiöse, nicht religiös geprägte Einstellungen, unterschiedliche Glaubensrichtungen, Stadt-Land-Unterschiede, und unterschiedlich starke zivilgesellschaftliche Einflüsse. Wir sind ein offenes pluralistisches demokratisch wehrhaftes Gemeinwesen.

Welche Unterstützung erwarten Sie von den muslimischen Gemeinden, gerade auch um dem Einfluss von islamistischen Strömungen vorzubeugen?

Den Gemeinden kommt eine große Bedeutung in der Frage der Integration zu. Es geht unter anderem um die Vermittlung unserer gesellschaftlichen Werte einerseits und um kulturelle und religiöse Bewahrung von Tradition andererseits. Auch da gibt es sicher eine große Bandbreite von Aktivitäten.

Was ist bei der Integration essenziell?

Eine ganz entscheidende Bedingung für gelingende Integration existiert dort, wo es Begegnung gibt, wo Infrastruktur, Menschlichkeit und Gemeinsinn besteht. Das unterstützen wir als Hochschule beispielsweise im benachbarten Staudenhof aktiv. Kochgruppen, Tischtennis, Fahrradgruppen, Sportgruppen für Frauen, Treffen mit der Bevölkerung im Café – nur so kann man sich kennenlernen und Klischees vermeiden. Und das funktioniert: In diesem Haus und der Umgebung hat es bislang keinen gravierenden fremdenfeindlichen Vorfall gegeben.

Wo könnte denn der weitere notwendige Wohnraum entstehen – in der Peripherie in leer stehenden Plattenbauten und verlassenen Feriensiedlungen?

Eine ganz schwierige Frage. Einerseits haben wir im Osten in den Randregionen den größten Leerstand, anderseits hat gerade diese Bevölkerung große gesellschaftliche Umwälzungen und auch eine wirtschaftliche Ungleichheit erlebt. Wie gesagt sind ausreichend Infrastruktur und eine deutsche Nachbarschaft für eine erfolgreiche Integration grundsätzlich. Wenn die Alternative allerdings ist, dass die Menschen tagelang vor dem Lageso im Freien verbringen müssen, dann hätte ich auch nichts dagegen, beispielsweise in Wünsdorf eine zentrale Erstaufnahmeeinrichtung für 50 000 Menschen zu schaffen – um die Flüchtlinge dann in den folgenden Wochen zu verteilen.

Man kann die Flüchtlinge auch nicht nur in den vergleichsweise liberalen Großstädten unterbringen.

Auch die ländlichen Regionen werden sich daran gewöhnen, dass wir eine plurale Gesellschaft sind, auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder in Schleswig-Holstein gilt das Grundgesetz, sollte Menschlichkeit herrschen und braucht die Bevölkerung Zuwanderung, um nicht in zehn Jahren stundenlang auf den Arzt, den Mechaniker oder den Pfleger zu warten.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

ZUR PERSON: Peter Knösel (62) ist Professor an der Fachhochschule Potsdam. Der Rechts- und Politikwissenschaftler lehrt Familien-Jugendhilfe sowie Migrationsrecht und leitet das Projekt Staudenhof.

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