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Neue Chance. Bundestrainer Joachim Löw darf sich noch einmal versuchen.

© AFP

Nations League gegen Frankreich: Die Fußball-Nationalmannschaft und ihre Neuanfänge

Bundestrainer Joachim Löw darf sich noch einmal versuchen. Das kann gut gehen. Muss aber nicht, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt. Eine Historie.

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat in diesem Sommer ein historisches Debakel erlebt. Erstmals sind sie in der Vorrunde einer Weltmeisterschaft ausgeschieden. Bundestrainer Joachim Löw durfte trotzdem im Amt bleiben und mit dem Spiel gegen Frankreich an diesem Donnerstag einen Neuanfang wagen. Das kann gut gehen. Muss es aber nicht, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt.

WM 1962

Rund 300 Fans haben sich Ende Juni auf dem Frankfurter Flughafen eingefunden, um die Nationalmannschaft nach ihrer Rückkehr aus Chile willkommen zu heißen. „Nun klatscht doch mal!“, fordern die Fotografen. Es rührt sich kaum eine Hand. In diesem Moment geht Bundestrainer Sepp Herberger auf, dass die öffentliche Beurteilung des WM-Abschneidens mit seiner eigenen Einschätzung eher nicht übereinstimmt.

Herberger ist keineswegs unzufrieden. Seine Mannschaft hat in ihrer Gruppe mit Gastgeber Chile und Italien Platz eins belegt und das Viertelfinale gegen Jugoslawien durch ein spätes Tor nur knapp mit 0:1 verloren. In der Heimat aber wird das vorzeitige Aus eher als Debakel begriffen. „Er wurde massiv angegriffen, in allen Medien“, schreibt Herbergers Assistent und späterer Nachfolger Helmut Schön in seinen Memoiren.

Der Bundestrainer macht trotzdem weiter – und landet gleich einen Achtungserfolg. Der Gegner beim WM-Aus in Chile ist zugleich der erste nach der WM. Am 30. September gewinnt die Nationalmannschaft in Zagreb 3:2 (2:1) gegen Jugoslawien. „Das gibt Mut, macht Hoffnung“, schreibt der Tagesspiegel. Und: „Wie haben sie nicht alle auf dem Bundestrainer nach Chile herumgehackt, jene, die ihm jetzt wieder goldene Lorbeerkränze winden.“ Heinz Strehl vom 1. FC Nürnberg, der bei der WM keine Minute hat spielen dürfen, erzielt bei seinem Länderspieldebüt alle drei Tore. „Mit der gleichen Ruhe, wie er in der heimischen Metzgerei seine Würste kocht und Koteletts klopft, spielte er in Zagreb seinen Ball. Abgeklärt. Eiskalt, spritzig und voller Tatendrang“, berichtet der Tagesspiegel.

Die Zweifel an Herberger aber bleiben. Der DFB erklärt zwar, dass er noch drei Jahre bleiben werde, und Herberger selbst verkündet: „Die Vorbereitungen für die Weltmeisterschaft liegen noch in meiner Hand.“ Im Mai 1964 aber wird er in Hannover offiziell verabschiedet. Da das Spiel gegen Schottland mit einem unbefriedigenden 2:2 endet, sitzt Herberger am 7. Juni 1964 gegen Finnland noch einmal auf der Bank. Die Nationalmannschaft gewinnt 4:1 in Helsinki – dort, wo Sepp Herberger 1921 sein erstes Länderspiel als Spieler bestritten hat.

WM 1978

„So hätte ich mir die Elf in Argentinien gewünscht“, sagt Helmut Schön. Der ehemalige Bundestrainer sitzt beim Debüt seines Nachfolgers Jupp Derwall in Prag auf der Tribüne. Er sieht einen berauschenden Auftritt der deutschen Mannschaft, die bei der WM in Argentinien durch eine blamable 2:3-Niederlage gegen Österreich vorzeitig ausgeschieden ist. Dabei stehen in Prag noch acht Spieler auf dem Feld, die auch in Cordoba dabei waren. „Es ist wieder Bewegung im deutschen Spiel“, findet der Tagesspiegel. 4:1 führt die Nationalmannschaft schon zur Pause gegen die Tschechoslowakei. 4:3 heißt es am Ende für den gestürzten Weltmeister.

„Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass uns im Lande des Europameisters vier Tore gelingen“, sagt Derwall. Das Debüt in Prag ist der Beginn einer beeindruckenden Serie: Die ersten 23 Spiele seiner Amtszeit gehen ohne Niederlage zu Ende – das ist bis heute Rekord. Genau wie die zwölf Siege hintereinander, die der Mannschaft unter Derwall zwischen Mai 1979 und Juni 1980 gelingen.

EM 1984

Franz Beckenbauer ist ehrlich überrascht, als die „Bild“-Zeitung, für die er während der EM in Frankreich als Kolumnist gearbeitet hat, über neue Entwicklungen in der Bundestrainerfrage berichtet. Dass Jupp Derwall sich nach dem Vorrundenaus nicht im Amt wird halten können, war klar. Aber wer soll ihn ablösen? Helmut Benthaus, gerade mit Stuttgart Meister geworden und Favorit des DFB, urlaubt irgendwo in Kanada, ist nicht zu erreichen und steht noch dazu beim VfB unter Vertrag. In dieser Situation verkündet die „Bild“ auf ihrer Titelseite: „Franz: Ich bin bereit“. Für Franz Beckenbauer ist das eine echte Neuigkeit.

Enthusiasmus sieht anders aus. Franz Beckenbauer war von seinem Debüt als Teamchef nicht besonders erbaut.
Enthusiasmus sieht anders aus. Franz Beckenbauer war von seinem Debüt als Teamchef nicht besonders erbaut.

© Imago

Deutschlands Rekordnationalspieler hat nicht mal eine Trainerlizenz, auch deshalb einigt man sich schließlich darauf, dass Beckenbauer als Teamchef nur den Platzhalter gibt, bis Benthaus verfügbar ist. Sein Debüt läuft ebenfalls nicht allzu erfolgreich. In Düsseldorf trifft die Nationalmannschaft auf Argentinien, zwei Debütanten – Michael Frontzeck und Ralf Falkenmayer – stehen in der Startelf, später wird auch noch Christian Schreier eingewechselt. Am Ende steht eine verdiente 1:3 (0:2)-Niederlage gegen eine argentinische Mannschaft, in der Diego Maradona nicht einmal dabei war. Der „Kicker“ bescheinigt Beckenbauer einen „Berg von Sorgen“, der Tagesspiegel spricht sogar von einem Fiasko und schreibt: „45.000 Zuschauer im Düsseldorfer Rheinstadion waren an diesem frühen Abend jedenfalls ernüchtert und die Millionen Fernsehzuschauer vieler Illusionen beraubt."

Zu der Niederlage trägt auch Beckenbauers gewagtes taktisches Experiment bei: Er lässt mit einer Viererkette verteidigen, was keiner seiner Spieler beherrscht und auch gar nicht ausreichend trainiert werden konnte. In der Pause beschließen die Verteidiger, ohne Beckenbauers Wissen, auf das bewährte System mit Libero umzustellen – und halten den Schaden damit noch in Grenzen. „Wenn ihr Wunderdinge erwartet, hättet ihr besser einen vom ,Circus Krone’ holen sollen. Ein Zauberer bin ich nicht“, sagt Beckenbauer, der schließlich sechs Jahre im Amt bleibt und dem deutschen Fußball zum Abschluss mit dem Gewinn des WM-Titels einen magischen Moment beschert.

WM 1998

Anderthalb Monate sind seit dem seit der 0:3-Niederlage gegen Kroatien im WM- Viertelfinale vergangen – da ruft Bundestrainer Berti Vogts in der DFB-Zentrale nicht weniger als eine „neue Ära der Nationalmannschaft“ aus. Vogts ist nach dem WM-Aus heftig kritisiert worden. Nun aber verkündet er: „Ich habe Kraft genug, den Auftrag zu erfüllen und eine neue Nationalmannschaft aufzubauen, mit dem Ziel, uns für die Europameisterschaft 2000 zu qualifizieren und den Titel erfolgreich zu verteidigen.“

24 Spieler nominiert er an diesem Tag für die Malta-Reise, eine Art Lehrgang mit zwei Länderspielen gegen Malta und Rumänien. Aus dem WM-Kader sind noch elf Spieler dabei, hinzu kommen acht, die noch kein einziges Länderspiel bestritten haben – und der 30 Jahre alte Stefan Effenberg, der vier Jahre nach der Stinkefinger-Affäre in allen Ehren wieder in den erlauchten Kreis aufgenommen wird.

Der Rückkehrer. Stefan Effenberg (rechts) gab 1998 ein kurzes Comeback.
Der Rückkehrer. Stefan Effenberg (rechts) gab 1998 ein kurzes Comeback.

© Imago

Die neue Ära aber dauert nur 180 Minuten. Der Tagesspiegel nennt Malta „die Insel der verlorenen Illusionen des Berti Vogts“, und der „Spiegel“ empfindet die Reise „noch trister“ als die WM in Frankreich. Einem rauschhaften 2:1 gegen Malta folgt ein glückliches 1:1 gegen Rumänien, weil Christian Nerlinger bei seinem Länderspieldebüt in der 85. Minute der Ausgleich gelingt. Effenberg ist nicht zu sehen. Es wird sein letztes Länderspiel bleiben, genau wie für Berti Vogts, der selbst zugibt: „Man kann das Spiel nicht gut schreiben.“

Zwei Tage später und nur fünf Wochen vor dem wichtigen EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei in Bursa erklärt der Bundestrainer seinen Rücktritt: weil er es sich selbst schuldig sei, „den letzten Rest Menschenwürde zu verteidigen, welcher mir noch gelassen worden ist“.

EM 2000

Was sich am 15. August 2000 im Niedersachsen-Stadion von Hannover abspielt, ist im Grunde ein mittelgroßes Fußballwunder. Und damit ist weniger der deutliche 4:1 (1:0)-Erfolg der Nationalmannschaft durch je zwei Tore von Mehmet Scholl und Alexander Zickler gegen Spanien gemeint. Verwunderlich ist vor allem die freudige Stimmung, die der Nationalmannschaft entgegenschlägt. Knapp zwei Monate zuvor, nach dem Vorrundenaus bei der EM in Holland und Belgien, waren die Nationalspieler noch als Flaschen und Bratwürste verspottet worden.

„Ein munteres 4:1 gegen Spanien genügte, und verflogen scheinen plötzlich alle Frusterlebnisse“, schreibt der Tagesspiegel. „Hannover jubelte einer Mannschaft zu, die sich im Juni noch strafbar gemacht hatte wegen ihres gemeinschaftlich verübten Anschlags auf die Volksseele.“ Dass die Spanier, die erst kurz vor Schluss zum 1:4 treffen, noch mitten in der Vorbereitung stecken, weil ihre Liga erst vier Wochen später startet – geschenkt.

Zum Stimmungsumschwung trägt auch der neue Mann auf der Trainerbank bei, der als Nachfolger des überforderten Erich Ribbeck eigentlich nur eine Not- und Zwischenlösung ist. Rudi Völler soll lediglich die Zeit überbrücken, bis der Leverkusener Christoph Daum zur Verfügung steht. Mit seinen Sympathiewerten aber erweist sich Völler als echter Glücksfall. „Ich glaube, die Leute haben gemerkt, dass sich einiges verändert hat“, sagt er nach seinem Trainerdebüt.

EM 2004

Das Hoch, das Rudi Völler auslöst und die Nationalmannschaft immerhin 2002 bis ins WM-Finale führt, erweist sich recht schnell als wenig stabil. Der Zustand des deutschen Fußballs ist weiterhin nicht gut, das Reservoir an überragenden Spielern überschaubar. Auch deshalb ist es fast schon frech, dass Völlers Nachfolger Jürgen Klinsmann wenige Wochen nach dem Vorrunden-Aus bei der EM in Portugal verkündet: „Wir wollen 2006 im eigenen Land Weltmeister werden.“

So forsch geht es für den neuen Bundestrainer auch in seinem ersten Länderspiel los. Nur 95 Sekunden dauert es, bis Kevin Kuranyi in Wien zum 1:0 gegen Österreich trifft. Auch die übrigen Tore zum 3:1 (1:1) erzielt der Stürmer des VfB Stuttgart. „Ich bin hochzufrieden. Die Mannschaft hat sich an unsere Vorgaben gehalten. Es hat Spaß gemacht zuzuschauen. Danke. Toll“, sagt Klinsmann nach dem Sieg gegen die Nummer 89 der Welt.

Er hat Frank Fahrenhorst von Anfang an aufgeboten, später kommt auch der 20 Jahre alte Robert Huth vom FC Chelsea noch zu seinem Länderspieldebüt. Klinsmann – das wird schon in den ersten Tagen seiner Amtszeit deutlich – begnügt sich nicht mit der Verwaltung der bestehenden Zustände; er will sie radikal verändern. Erstes Zeichen ist die Absetzung des allmächtigen Oliver Kahn als Kapitän, der durch Michael Ballack ersetzt wird. „Die Mannschaft soll wieder glauben, dass sie Großes vollbringen kann“, sagt Klinsmann. Dass das mitunter auch sehr anstrengend werden kann, ahnen zu diesem Zeitpunkt allerdings die wenigsten.

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