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„Nicht nur die Kleinen von Nebenan”: Warum die Rivalität zu England für Wales nicht alles ist
Am Sonntag trifft Wales in seinem wohl letzten EM-Spiel auf England. Das große Derby bietet der kleinen Nation auch eine Chance, sich ganz ohne Bezug auf den größeren Nachbarn zu feiern.
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Es könnte vielleicht das bisher lauteste Spiel dieser EM werden. Schon an den ersten beiden Spieltagen in der Schweiz haben die walisischen Anhänger mit ihrer leidenschaftlichen Unterstützung auf sich aufmerksam gemacht. Wenn die walisischen Fußballerinnen am Sonntag im letzten Gruppenspiel auf England treffen (21 Uhr, ARD-Mediathek), dürfte die berühmte „Rote Wand“ noch einen Tick lauter singen.
„Das ist die größte Rivalität, die wir haben, also für uns ist das super spannend“, sagte Wales’ Hannah Cain gegenüber der BBC am Freitag vor dem Kampf mit dem großen Nachbarn. Dabei ist diese auch eine komplexe Rivalität zwischen zwei Nationen, deren Verhältnis zueinander oft schwer einzuordnen ist.

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Einerseits ist es wie bei jeder Rivalität zwischen England und einem seiner kleineren Nachbarn. Groß gegen Klein, Zentrum gegen Provinz, Angelsachsen gegen Urbriten und, für manche, Kolonist gegen Kolonisierten. Als die zwei Mannschaften bei der Männer-EM 2016 zum ersten Mal seit Jahren aufeinander trafen, sprach der walisische Superstar Gareth Bale davon, „den Feind“ schlagen zu wollen.
Es gibt nichts wie Wales. Wir sind wirklich ein ganz anderes Volk.
Jess Fishlock
Gleichzeitig hat Wales auch sein ganz eigenes Verhältnis zu England. Anders als bei der irisch-englischen Beziehung überwiegt hier kein generationenübergreifendes Trauma von Krieg und Gewalt. Der politische Drang zur Unabhängigkeit ist in Wales auch bei Weitem nicht so ausgeprägt wie in Schottland. Anders als die anderen „Home Nations“ war Wales selten bis nie ein zusammenhängendes Königreich an sich. Das prägt bis heute seinen Status in der Union.
Auf religiöser, politischer und Verwaltungsebene ist Wales nämlich deutlich enger mit England zusammengestrickt, als Nordirland oder Schottland es sind. Auch im Fußball ist die Grenze am mittelalterlichen Offa’s Dyke oft poröser. Hannah Cain ist etwa im englischen Doncaster geboren und spielte bis die U 21 für die Lionesses.
Was nicht heißen soll, dass die Waliser weniger stolz sind oder eine weniger ausgeprägte Identität haben. Im Gegenteil: sprachlich und kulturell liegt Wales oft noch deutlich weiter weg von London als zum Beispiel Edinburgh. „Es gibt nichts wie Wales. Wir sind wirklich ein ganz anderes Volk“, sagte Star-Spielerin Jess Fishlock vor diesem Turnier.
Dass man das überhaupt betonen muss, zeigt aber ein Stück weit auch das Ungleichgewicht im Verhältnis. Die Waliser kennen England in- und auswendig. Die Engländer müssen hingegen immer daran erinnert werden, dass Wales tatsächlich ein anderes Land mit einer anderen Sprache ist.
Auf dem Spielfeld drückt sich diese Dysbalance je nach Sportart unterschiedlich aus. Im Rugby, wo beide Nationen lange auf Augenhöhe und vor allem regelmäßig gegeneinander spielten, ist die Abneigung gegen England noch ein wesentlicher Teil der walisischen Identität.
Neue Fußballkultur in Wales
Im Fußball ist es anders: Seit Abschaffung der British Home Championship 1984 gab es nur sieben direkte Duelle zwischen den Männer-Nationalmannschaften und nur vier zwischen den Frauen. Und auch dann war es meist einseitig. Von insgesamt 58 Begegnungen seit dem Zweiten Weltkrieg gewann Wales nur vier.
Das dämpft die Rivalität, verleiht andererseits auch Freiheiten, das ganze Verhältnis anders zu interpretieren. Denn wer braucht schon ein Feindbild, um seine eigene Existenz zu bestätigen? Mit dem neuerlichen Erfolg der Männer hat sich eine neue Fußball-Fankultur in Wales entwickelt, die positiver gestaltet ist, und wo die walisische Identität ganz ohne Bezug auf England ausgelebt wird. Man feiert sich einfach für sich: als Fußball-Land. Und als Land überhaupt.
Das ist auch der Tenor vor diesem Duell. „Wir sind Nachbarn und Wales wird immer als das kleinere Land gesehen, aber das sind wir nicht“, sagte die walisisch sprechende Stürmerin Ffion Morgan der BBC. „Wir sind nicht nur die Kleinen von Nebenan. Wir sind genauso wichtig wie England, und deshalb haben wir Feuer im Bauch“.
Da hilft es auch, dass für beide Mannschaften zumindest theoretisch alles drin ist. Wales ist zwar krasser Außenseiter und nach zwei Niederlagen so gut wie ausgeschieden, doch mit einem Sieg könnte man sich noch eine kleine Chance aufs Weiterkommen erschaffen. „Es ist mathematisch schwer, doch es ist nicht mathematisch unmöglich“, sagte Hannah Cain.
Dass man gleichzeitig England noch rauskegeln könnte, macht die Konstellation vielleicht noch süßer, doch am Ende bleibt das sekundär. In ihrem wohl letzten EM-Spiel wollen die Waliser laut Cain vor allem für sich spielen. „Klar könnte das verheerend für England sein, doch es könnte vor allem unglaublich für uns werden. Wir denken nur daran, mit vollem Herzblut zu spielen und alles auf dem Platz zu lassen.“
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