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Pressing statt Catenaccio bei dieser EM: Italien wird Titelverteidiger England alles abverlangen
Italien steht sinnbildlich für den rasanten Aufschwung im europäischen Frauenfußball – taktisch mutig und spielerisch gereift. Mit einem modernen Spielstil dürfte es die Engländerinnen vor große Probleme stellen.
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Das italienische Nationalteam ist vielleicht das beste Beispiel für die Entwicklung des Fußballs der Frauen in den vergangenen Jahren. Schon bei der EM in England 2022 führte die deutlich gestiegene Professionalität durch die Unterstützung der Verbände zu einer größeren Leistungsdichte. Doch bei dieser EM in der Schweiz zeigt sich auch der spielerische Fortschritt. Waren Spiele bei Endrunden oftmals noch von einer sehr defensiven Ausrichtung einzelner Teams geprägt gewesen, trauen sich nun alle etwas zu und spielen mutig nach vorne.
So auch Italien, das sich mit einem 2:1-Sieg über Norwegen völlig verdient für das Halbfinale qualifiziert hatte. Obwohl Norwegen mit Starspielerinnen wie Ada Hegerberg, Caroline Graham Hansen oder Ingrid Engen individuell deutlich besser besetzt ist, setzte sich Italien letztlich durch und steht erstmals seit 1997 wieder in einem EM-Halbfinale.
Gegner am Dienstag (21 Uhr) in Genf ist England. „Sie sind die Titelverteidigerinnen, wir haben großen Respekt vor ihnen, weil sie Spielerinnen haben, die das Spiel entscheiden können, wenn sie nur möchten. Aber jetzt sind wir so weit gekommen – wir wollen weiter daran glauben und hier nicht aufhören“, sagte Kapitänin Cristiana Girelli. Die 35-jährige Angreiferin von Juventus Turin hatte den historischen Erfolg erst mit ihren zwei Treffern ermöglicht.
Unser Glaube, gegen jedes Team bestehen zu können, ist groß.
Cristiana Girelli, italienische Nationalspielerin
Girelli ist im System von Trainer Andrea Soncin entscheidend. Oftmals initiiert sie das mitunter hohe Pressing der Azzurre, das schon Norwegen stresste und auch das englische Team von Trainerin Sarina Wiegman nerven dürfte. Eigentlich völlig untypisch für eine italienische Mannschaft, unter Trainer Soncin jedoch absolut etabliert.
Andrea Soncin formte ein konkurrenzfähiges Italien
Dem 46-Jährigen, der seit September 2023 im Amt ist, ist es gelungen, ein Team zu entwickeln, das viel Willenskraft und einen unerschütterlichen Glauben ausstrahlt, dabei aber auch eine klare Spielidee umsetzt. Italien erlangt entweder durch sauberen Ballbesitz Spielkontrolle oder aber durch starkes Pressing und viele Ballgewinne. Darauffolgend geht es dann stets mit viel Tempo und Geradlinigkeit nach vorne. „Unser Glaube, gegen jedes Team bestehen zu können, ist groß. Unser Trainer sagt uns immer, dass wir mutig sein und wirklich Fußball spielen sollen, weil wir die Qualität dazu haben. Und das zeigen ja auch unsere Leistungen und die Ergebnisse“, meinte Girelli.
Womit sich die Norwegerinnen bereits schwertaten, dürfte auch den Lionesses Probleme bereiten. Immerhin kamen bereits die Schwedinnen im Viertelfinale mit einer ähnlichen Spielweise einem Sieg sehr nahe. Die englische Verteidigung hat auf den Außenpositionen Tempodefizite, aber auch auf den inneren Positionen. Immer wieder lief Jessica Carter dort, eine schwedische Stürmerin im Rücken, davon. Leah Williamson hatte derweil ihre Probleme im Aufbauspiel.
Trainerin Wiegman bezeichnete den Sieg Englands gegen Schweden als eines der härtesten Spiele, das sie je erlebt hatte. Dass England schließlich gewann, hatte auch mit ihrer taktischen Anpassungsfähigkeit zu tun und den Einwechslungen von Chloe Kelly und Michelle Agyemang. Hinzu kam der große Kampfgeist und eine enorme Mentalität. England ist das erste Team in der Geschichte der Europameisterschaft, das einen 0:2-Rückstand in einem K.o.-Spiel noch drehen konnte.
Trotz des bislang eher holprigen Turniers gilt England aufgrund des starken Kaders mit Ausnahmespielerinnen wie Alessia Russo, Lauren James oder Lauren Hemp als klarer Favorit. Auch wenn dieses Aufgebot bei dieser EM noch nicht wirklich sein ganzes Potenzial abrufen konnte – ganz im Gegensatz zu Italien. Dort scheinen aktuell viele Faktoren ineinander-zugreifen, mit Girelli als torgefährlicher und emotionaler Leaderin, der schnellen Sofia Cantore über außen und der stark aufspielenden Mittelfeldstrategin Arianna Caruso.
Natürlich hatte Italien Glück mit seiner vergleichsweise einfachen Gruppe B und der vermeintlich leichteren Seite des Turnierbaums. Dennoch steht Italien nicht zu Unrecht im Halbfinale der EM. Es dürfte zumindest niemanden mehr überraschen, wenn die Azzurre den Engländerinnen in Genf wirklich alles abverlangen.
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