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Meer dahinter. Die Touristen haben sich bisher nicht abschrecken lassen. Nach der Wahl gab es nur einzelne Stornierungen.

© Claus-Dieter Steyer

Landtagswahl Mecklenburg-Vorpommern 2016: Die Fangfrage

2000 Stunden scheint die Sonne im Jahr vom Usedomer Himmel. Auf zumeist deutsche Touristen. Gerade mal 285 Asylbewerber gibt es im gesamten Wahlkreis. Und doch fährt die AfD hier Spitzenwerte ein.

Das Grundübel, hatte Matthias Andiel gesagt. Das Grundübel, irgendwann vor einem Vierteljahrhundert begangen, und an diesem Sommerabend ist es der Auslöser dafür, dass Andiel zu brüllen anfängt. „Flächennutzungsplan“, schreit er, „Verantwortung“, „Scheiße“, mitten hinein in das Gesicht eines Mannes, hier auf der Terrasse des Zeltplatz-Restaurants des Städtchens Lassan in Vorpommern.

Es ist ein Streit unter Eingeweihten über eine der Folgen der industrialisierten Landwirtschaft, über einen riesigen Güllebehälter, möglicherweise mehr als 6000 Kubikmeter groß, den ihnen ein Agrargroßbetrieb in die Gegend stellen will.

Eine andere Folge, davon ist Andiel überzeugt, ist das mecklenburg-vorpommersche Landtagswahlergebnis vom ersten September-Wochenende. Es fiel, vor allem hier im Nordosten, extrem aus: 32 Prozent der Stimmen im Wahlkreis Vorpommern-Greifswald III bekam die AfD, die NPD 5,6.

Es gibt Gemeinden im Wahlkreis, Peenemünde auf Usedom zum Beispiel, in denen beide Parteien zusammen eine Mehrheit haben. Bei Andiel in Lassan hat es dazu nicht ganz gereicht. Die NPD hat 23 Prozent. Die AfD 24.

Eine Landschaft, die vom Fremdenverkehr lebt, wird dominiert von fremdenfeindlichen Parteien, und die Männer auf der Campingplatz-Terrasse streiten über den geplanten Gülletank.

Eineinhalb Mal so groß wie das Saarland, aber nur ein Viertel der Einwohner

Aus Andiels Sicht ist der Streit naheliegend, weil schließlich beides – das Wahlergebnis und die Gülle – durch das Grundübel miteinander verbunden sind. Der umstrittene Riesentank gehört zur modernen Agrarindustrie, die nach der Wende die ostdeutschen Böden übernommen und aufgeteilt hat.

An der Ostsee haben die Großbetriebe viel Macht – abseits der Strände ist die Landwirtschaft oft das einzig sichtbare Gewerbe im Landkreis. Der Kreis ist eineinhalb Mal so groß wie das Saarland, hat aber nur ein Viertel von dessen Einwohnerzahl, 240 000 sind es. Die Verwaltung wirbt: „Es existiert eine starke, auf Weltmarktniveau konkurrenzfähige Landwirtschaft mit großflächigen Betriebsstrukturen.“

Andiel, Jahrgang 1958, Ex-Sachse, in den 80er Jahren hergezogen auf die letzte Festlandsecke vor Usedom. Den örtlichen Ableger der DDR-SPD hat er mitgegründet, danach ist Andiel für die CDU jahrelang Bürgermeister in einem der umliegenden Dörfer gewesen. Weiße, lange Haare, hinten zusammengebunden. Der andere, ein Ex-Bayer, kam ein Jahrzehnt später. Er war mal ein Biolandbau-Pionier.

Die beiden werden nun im Schweriner Landtag vertreten vom AfD-Politiker Ralph Weber, der mit 35,3 Prozent der Erststimmen ein Direktmandat erreichte und damit sogar noch etwas besser abschnitt als seine Partei.

Ein Juraprofessor, der "Reichsbürger" in Vorlesungen auftreten lässt

Weber hat vom Streit der beiden Männer über die Gülle gehört. Weber ist Juraprofessor, er lehrt Bürgerliches Recht, Medizinrecht, Arbeitsrecht und Rechtsgeschichte an der Universität Greifswald. Er weiß von den Unterschriftenlisten, die in Lassan ausliegen und davon, dass schon mehr als 1000 Menschen dort ihre Namen eingetragen haben, um gegen die Gülle zu protestieren. Ende September wird es dazu eine Bürgerversammlung geben. Am Telefon sagt AfD-Mann Weber: Er werde hinfahren, „ich werde moderieren. Wir haben sichergestellt, dass ich da eingeladen werde.“

Lassans Bürgermeister teilt mit: „Die Veranstaltung werde ich leiten“, und die Fragerunde werde vom Amtsleiter moderiert. „Herr Weber wurde beziehungsweise wird von uns nicht eingeladen.“

Professor Doktor Ralph Weber. Ist mal in Thor-Steinar-Kleidern durch die Universität gelaufen. „Das Ganze begann damit“, sagt er, „dass die Uni eine Hausordnung erlassen hat. Ich selber habe das aufgedeckt, und um eine Reaktion der Uni zu bekommen, habe ich dann so einen Gürtel und ein T-Shirt angezogen.“

In einer seiner Vorlesungen hat Weber einmal einen „Reichsbürger“ auftreten lassen. „Der ist aus Berlin, wie ich jetzt weiß, und er ist innerhalb der Reichsbürger bekannt. Er kam auf Empfehlung eines Studenten.“ Bei dessen Vortrag „habe ich mehr als drei Mal interveniert und die Veranstaltung abgebrochen.“

285 Asylbewerber. „Das sind genau 285 zu viel.“

Weber hatte wohl Kontakte zur NPD. „Ich war bei einer Geburtstagsfeier in Berlin eingeladen. Udo Voigt war auch da, als Gast wie ich. Ich habe den vorher und nachher nicht mehr getroffen.“

Das Mindeste, was man über Weber sagen kann, ist, dass er gern provoziert. Zurück bleibt oft eine Unschärfe. Ist Weber tatsächlich so ahnungslos, wie er behauptet, will er tatsächlich vor allem Diskussionen anstoßen – oder braucht er die Ausfallschritte nach weiter rechtsaußen, um sich ein auch für AfD-Verhältnisse besonderes Profil zu geben?

Bei einem Thema wird Weber deutlich. Bei Fremden. Im ganzen Wahlkreis gibt es laut Auskunft des leitenden Verwaltungsbeamten 285 Asylbewerber. Weber sagt: „Das sind genau 285 zu viel.“

Die Schreierei auf dem Lassaner Zeltplatz geht weiter, Andiel will den Gülletank nicht, er vermutet Mauscheleien und Ignoranz der Bürger, sein Gegenüber rät dazu, die Machtverhältnisse und die Rechtslage hinzunehmen, auf Dialog zu setzen und so vielleicht zumindest das Schlimmste zu verhindern. Sie brüllen endlose ein, zwei Minuten lang, die anderen Gäste auf der Terrasse halten Abstand, dann sind die Männer erschöpft und gehen auseinander.

In den Tagen darauf schämen sie sich ein wenig dafür, und Andiel erklärt, wie alles miteinander zusammenhängt, die Gülle, die er nicht haben will, und das Wahlergebnis.

„Die Großstrukturen in der Landwirtschaft sind das Problem“, sagt er. „Vor allem, wie sie entstanden sind.“ Aus den großen LPGs, den Bauernkollektiven der DDR, wurden große Privatunternehmen, das hiesige hat sogar noch denselben Chef wie damals. Andiel habe den Leuten, die ein kleines Stück Land hatten, „noch gesagt, gebt eure Äcker nicht her, jedenfalls nicht für bloß 2000 Mark den Hektar“. Er sei verlacht worden.

Der "Endpunktnachteil": Im Norden die Ostsee, im Osten Polen

Anfang der 90er Jahre ist Andiel der jungen Angela Merkel begegnet, „ich habe sie damals angesprochen bei einer Veranstaltung, auf die alten, neuen LPG-Strukturen, auf die Umwandlung“. Auf die alte Macht in alten Händen. Auf heruntergerechnete Vermögenswerte, auf mickrige Zahlungen an die verkaufsbereiten Bauern. Merkel habe herumgedruckst und schließlich gesagt, ja, diese Leute hätten einen großen Einfluss, dem möglicherweise hier oben im Nordosten noch weniger entgegenzusetzen ist als anderswo. Sie soll das Wort „Endpunktnachteil“ benutzt haben. Noch weiter nördlich ist nur noch die Ostsee, im Osten liegt Polen.

Und dann sei es losgegangen, sagt Andiel: „die Ausplünderung des ländlichen Raums, die Verspargelung, die Massentierhaltung, die Privilegierung der Landwirtschaft. Die haben das Demokratieprinzip zerstört.“ Die? „Die Parteien sind schuld.“ Die Leute hätten sich machtlos gefühlt und gingen schließlich nicht mehr zur Wahl – in Lassan blieb nun jeder Zweite weg –, und vom Rest wählte fast die Hälfte rechtsaußen.

Genau deshalb muss man in Lassan auch um einen Güllebehälter streiten, sagt Andiel. Erstens sei das nun mal so in der Lokalpolitik, zweitens und grundsätzlich stünden da Interessen der Bürger hinter. Und die der Touristen auch.

Was die Touristen angeht: „Das sind ja keine Fremden“, sagt AfD-Mann Weber. Die Urlauber kämen aus Hamburg und Berlin, hätten dieselbe Kultur wie die Einheimischen, dieselbe Sprache. Keine Sorge, dass zukünftig einige davon wegbleiben würden? Wer das befürchte, nehme „nicht zur Kenntnis, dass die NPD hier im Landtag war, und das hat dem Tourismus nicht geschadet. Ich persönlich glaube, dass das überhaupt keine Rolle spielt. Die Sonnentage, das Radwegenetz, das spielt eine Rolle.“

Die Touristiker sorgen sich

Mit der Sonne werben die Tourismusverbände, 2000 Stunden scheint sie im Jahr vom Usedomer Himmel. In Werbeprospekten ist von der sonnenreichsten Region des ganzen Landes die Rede. Das ist bei denjenigen, die diese Broschüren herausgeben, die vielleicht einzige Gemeinsamkeit mit Webers Ansichten. Denn angesichts von dessen Wahlerfolg sorgen sich die Touristiker schon. Bis auf einzelne Stornierungen bemerken sie derzeit noch wenig, aber das Image werde leiden. Und ein schlechtes Image schlage irgendwann durch – nicht heute, aber vielleicht schon morgen.

Da hatten sie Webers Satz, den er jetzt am Telefon sagt, noch nicht gehört. Es ist ein Satz, den man wie manches bei ihm mehrfach deuten kann. Aber nach einer grundsätzlichen Willkommensbereitschaft klingt er nicht. „Touristen“, sagt Weber, „die zeichnen sich dadurch aus, dass die in einer absehbaren Zeitspanne wieder gehen.“

Noch sind sie da. Der Strand von Heringsdorf ist voller Menschen. Der Sand ist fein wie immer, wenn die Sonne hoch steht, leuchtet er weiß. So weiß wie die Strandkörbe und die Villen. Es herrscht Stille, Ruhe, Gelassenheit. Alles hier scheint gedämpft zu sein, sogar der Lärm der Jet-Ski-Raser neben der Seebrücke dringt nicht durch, sondern klingt, als sei er kilometerweit weg. Die Leute wirken müde. Vielleicht sind sie in den vergangenen Tagen zu oft danach gefragt worden, was sie vom Wahlverhalten ihrer Gastgeber hielten.

Die Ostseebewohner fühlen sich „abgehängt“

Die Touristen haben – wenn sie abends die Regionalnachrichten im Fernsehen schauten – Deutungsversuche gehört. Sie haben von der niedrigen Bezahlung im Tourismusgewerbe erfahren, von befristeten Verträgen, von den wenigen Arbeitsplätzen in der Agrarindustrie, von einer Klinikschließung, von lauter Gründen für die große Unzufriedenheit vieler Einheimischer.

Angela Merkels Endpunktnachteil kam vor, nur dass der heute anders heißt: Die Ostseebewohner fühlten sich „abgehängt“. Sie kommen zur Hochsaison im Auto kaum von der Insel herunter, wenn sie ins Krankenhaus müssen, um ein Kind auf die Welt zu bringen zum Beispiel. Mit dem öffentlichen Nahverkehr bedeutet es für manche eine Tagesreise.

So wird den Touristen der AfD-Erfolg erklärt. So erklärt ihn auch Weber. Gleichzeitig weiß er zu berichten, dass er bisher mit einer Idee, den Autoverkehr auf der Insel zu reduzieren, nicht durchdringe. „Wie wäre es, für die Touristen einen Discount zu schaffen, für Leute, die nicht mit dem Auto auf die Insel wollen?“ Dies klinge für viele aber nach dem Versuch, eine komplett autofreie Insel zu schaffen, sei also schwierig. Genauso wie Vorschläge, mehr Steuergeld in die Eisenbahn zu stecken, statt in Werften, die ohnehin nicht zu retten seien.

Interessenskonflikte überall. Oder ein Wahlvolk, das nicht weiß, was es will.

Die große, allwöchentliche Evakuierungswelle rollt

Sonntagabend auf Usedom. Der Bandwurm aus Autos setzt sich in Bewegung. Richtung Süden, zur Autobahn. Weg vom Endpunkt, in die großen Städte vor allem. Die große, allwöchentliche Evakuierungswelle rollt, so mächtig, als habe es einen Atomschlag auf der Insel gegeben. Dabei ist nur das Wochenende vorbei.

AfD-Politiker Weber will mehr Bürgerbeteiligung. Andiel, der Ex-Sachse aus Lassan, sagt: „Das hat er ja im Wahlkampf schon so gesagt, das kommt jetzt auch auf uns zu.“ Vor der Wahl hat es eine Veranstaltung gegeben, auf der sich die Kandidaten vorstellten, da sind er und andere Gülle-Gegner hingefahren, „da haben wir das Problem vorgetragen.“ Wenn Weber sich nun zu ihnen auf die Reise machen würde, zur Bürgerversammlung Ende des Monats und ohne offizielle Einladung, dann „wird darüber zu reden sein, ob man ihm Rederecht gibt“.

Weber wird sich nach Lage der Dinge wohl auf ihre Seite stellen, sie sind die Mehrheit. Mehr als 1000 Unterschriften in einem 1500-Einwohner-Ort, das ist deutlich. Den Initiatoren der Unterschriftensammlung wird das nicht gefallen, viele von ihnen haben eine linksalternative Vergangenheit. Weber hat schon anrufen lassen.

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