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Historiker Michael Brenner über deutsch-jüdisches Leben: Vergesst nicht, was zerstört wurde!
Seit 1955 erforscht das Leo Baeck Institut die Geschichte des deutschsprachigen Judentums. Im Gastbeitrag erklärt Präsident Michael Brenner, warum Erinnerung nicht eindimensional gedacht werden kann.
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Ein Klassenausflug nach Dachau, eine Gedenkveranstaltung am Jahrestag des Novemberpogroms und eine Lesung jener Dichter, deren Werke verbrannt wurden – all dies gehört zum Standardprogramm deutscher Erinnerungskultur, und das ist auch gut so. Doch bei all der Erinnerung an die Zerstörung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Deutschland darf nicht übersehen werden, was eigentlich zerstört wurde. An das gewaltsame Sterben zu erinnern, heißt auch deutsch-jüdisches Leben mitzudenken.
Deutschsprachige Juden haben in den hundertfünfzig Jahren zwischen der Zeit der Aufklärung und der Verdunkelung des Geistes einzigartige Kulturleistungen hervorgebracht. Kann man sich die Psychoanalyse, die Relativitätstheorie und die Zwölftonmusik etwa ohne Sigmund Freud, Albert Einstein und Arnold Schönberg vorstellen? Und was wäre die deutsche Literatur ohne Heinrich Heine, Franz Kafka, Alfred Döblin, Stefan und Arnold Zweig oder Lion Feuchtwanger?
Doch bevor wir uns in einer Aufzählung all der unter dem problematischen Titel „jüdische Beiträge zur deutschen Kultur“ zusammengefassten Leistungen verlieren, wie sie Sigmund Kaznelson 1934 in dem über 1000 Seiten dicken Werk Juden im deutschen Kulturbereich versuchte, vergessen wir bitte nicht, dass die deutschen und österreichischen Juden keineswegs alle kleine Freuds und Einsteins waren.
Auch die Hausierer, die in Unterfranken von Dorf zu Dorf zogen, die Viehhändler, die in Nordhessen Stammgäste auf den Rindermärkten waren, und die aus Galizien eingewanderten Lumpenhändler im Berliner Scheunenviertel gehörten zu Deutschland. Und natürlich gab es neben katholischen Taschendieben und protestantischen Hehlern auch jüdische Ganoven. Die Juden waren Teil Deutschlands, mit allem drum und dran, und schon sehr lange.
Zeugnisse seit dem 10. Jahrhundert
Die ersten Juden waren mit den Römern ins Land gekommen – noch bevor die Bevölkerung zwischen Rhein und Elbe, Weser und Donau sich Deutsche nannte und sich zum Christentum bekannte. Das erste bekannte Dokument, das von Juden auf dem Gebiet des heutigen Deutschland spricht, stammt aus dem Jahre 321 aus Köln. Konkrete Zeugnisse jüdischen Leben können dann ab dem 10. Jahrhundert nachgewiesen werden.
Die Juden waren also sicherlich keine Fremden in deutschen Landen, aber sie waren in den Augen der christlichen Bevölkerung lange Zeit doch die Anderen. Wir reden heute nur deswegen darüber, ob die Juden zu Deutschland gehören, weil ihnen, als den zumeist einzigen Nichtchristen, diese Zugehörigkeit immer wieder streitig gemacht worden war. So waren sie dann auch an den meisten Orten nicht über ein Jahrtausend lang ununterbrochen ansässig.
Die Geschichte der Juden in den deutschen Landen ist auch eine Geschichte von Vertreibung und Zuwanderung. Sie kamen in der Spätantike und dem Mittelalter aus Italien und dem Rheinland, später aus Böhmen und aus Wien, von wo sie noch 1671 vertrieben worden waren, danach vor allem aus Polen und Ungarn, und heute aus Russland, der Ukraine oder auch aus Israel.

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Darin unterscheiden sie sich wenig von den Vorfahren vieler heutiger katholischer und protestantischer Deutscher, die ihre Ursprünge in Preußen und Österreich, in Frankreich und Italien, in Polen und Böhmen haben – oder von den muslimischen Deutschen, deren Ursprünge in der Türkei, in Bosnien, Syrien oder Afghanistan liegen.
Vielerorts erinnern steinerne Zeugnisse an die Jahrhunderte jüdischen Lebens: eine mittelalterliche Judengasse, frühneuzeitliche Grabsteine, Einkerbungen an Türpfosten, in denen früher die Mesusa, die Schriftkapsel mit einem Bibelspruch, angebracht war. Aber man begegnet auch antijüdischen Darstellungen in und an zahlreichen Kirchen: von der Gegenüberstellung der triumphierenden Ecclesia und der gebrochenen Synagoga bis zur vulgär-antisemitischen „Judensau“.
Unterschiedliche Gesetze
Das 19. Jahrhundert brachte die Emanzipation der Juden mit sich, also ihre gesetzliche und bürgerliche Gleichstellung. Doch im Gegensatz zu Frankreich, wo sie im Zuge der Revolution zu französischen Bürgern mit gleichen Rechten und Pflichten wurden, zog sich dies in Deutschland über ein Jahrhundert lang hin. Dabei wurden den Juden Rechte gegeben, dann wieder in Frage gestellt, gelegentlich auch wieder zurückgenommen – und vor allem gab es in jedem Kleinstaat und in jeder Provinz Preußens unterschiedliche Gesetze.

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In Bremen und Lübeck etwa wurden die wenigen in napoleonischer Zeit angesiedelten jüdischen Familien nach dem Wiener Kongress 1815 gleich wieder vertrieben, dafür gab es in Lübecks Nachbarort Moisling eine Gemeinde. In Nürnberg durften sie sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ansiedeln. Doch im nahegelegenen Fürth gab es die damals größte und wichtigste jüdische Gemeinde in Bayern.
Die Zeit des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstiegs setzte dann vor allem während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik ein. Erfolgsgeschichten gab es genug. Emil Rathenau gründete mit der AEG ein zukunftsweisendes Unternehmen, Gerson von Bleichröder avancierte zum Bankier Bismarcks, und der Kaiservertraute Albert Ballin machte die Hapag zur größten Schifffahrtslinie der Welt. Walter Bensemann war an der Gründung des FC Bayern München beteiligt, den Kurt Landauer als Präsident und Richard „Dombi“ Kohn als Trainer 1932 zur ersten deutschen Meisterschaft führte.
Der Erfolg hatte seinen Preis
Doch, wie der Historiker Fritz Stern einmal schrieb, dieser Erfolg war auch eine Bürde – und er hatte seinen Preis. Auch wenn die deutschen Juden Staatsbürger wie alle Anderen waren – so wurden sie doch nicht wie alle Anderen behandelt. Sie blieben Außenseiter und vor allem Sündenböcke – wenn etwas schiefging. Und in Deutschland ging vor allem nach 1914 einiges schief. Ein verlorener Krieg, ein schmachvoller Friedensvertrag, eine beispiellose Inflation, hohe Arbeitslosigkeit und am Ende die Politisierung extremer Kräfte spaltete und schwächte die Gesellschaft so sehr, dass man wieder nach einem Sündenbock Ausschau hielt.
Albert Ballin hatte sich als Kaisertreuer direkt, nachdem er am 9. November 1918 vom Thronverzicht Wilhelm II. hörte, das Leben genommen. Emils Rathenaus Sohn Walther wurde im Juni 1922 von Rechtsextremen in Berlin erschossen. Walter Bensemann, Richard Kohn und – nach einem Aufenthalt im KZ Dachau – später auch Kurt Landauer, flüchteten aus Deutschland. Für viele der Hausierer, Viehhändler und Lumpenhändler, aber auch zahlreiche andere, gab es kein Visum und keinen Fluchtweg.
Auch Leo Baeck, das religiöse und seit 1933 auch politische Oberhaupt der deutschen Juden, blieb, gemäß der Devise, der Kapitän verlasse das sinkende Schiff zuletzt. Er wurde mit anderen Berliner Juden nach Theresienstadt deportiert, wo er so gut es ging, weiterhin der geistige Mittelpunkt der dort auf den Weitertransport nach Auschwitz Wartenden blieb.
Baeck überlebte – doch für ihn gab es nach 1945 keine Zukunft mehr in Deutschland. Die deutsch-jüdische Geschichte war für ihn beendet. Dass sich nach 1945 wieder eine neue Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland und Österreich entwickeln sollte, hätte ihn sicherlich überrascht – ebenso wie die Tatsache, dass es nach Auschwitz auch hier wieder ein neues Kapitel des Antisemitismus geben würde.
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