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Kinder stehen hinter dem Zaun eines Flüchtlingslagers im Irak.

© Imago/Florian Gaertner

Aurora Humanitarian Index: Mythen über Migranten – und wie die Realität aussieht

Die meisten Flüchtlinge leben im Süden, nicht in den entwickelten Ländern: Der Aurora Humanitarian Index deckt diese und andere Fehleinschätzungen zu Migration und Flucht auf.

Über die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit sind Kinder – aber kaum jemand weiß das. Die meisten Menschen glauben, Kinder stellten etwa ein Drittel der Geflüchteten, wie es einem normalen Anteil an der Bevölkerung entspräche. Diese Fehleinschätzung hat möglicherweise fatale Folgen: Denn Menschen sind sehr viel eher bereit zu helfen, wenn es um Kinder geht. Wüssten sie, wie sehr Kinder von den weltweiten Fluchtbewegungen betroffen sind – würden sie dann mehr spenden?

Mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen, aber der „Aurora Humanitarian Index“ bemüht sich immerhin, die Einstellungen von Menschen zu Flucht und Migration zu erforschen, Fehleinschätzungen aufzudecken und daraus Folgerungen für die Politik abzuleiten. Die aktuelle Auswertung, die jetzt in Berlin vorgestellt wurde, basiert auf knapp 11.000 Online-Interviews, die im März und April 2018 mit Menschen aus 12 Ländern geführt wurden – jeweils rund 1000 Menschen in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, USA, Argentinien, Japan, Armenien, Russland und der Türkei. Mit je 300 Befragten sind auch die Länder Iran, Kenia und Libanon dabei.

Armenische Initiatoren vergeben auch Menschenrechtspreis

Der Index, der zum dritten Mal erscheint, ist Teil der „Aurora Humanitarian Initiative“, die von drei Männern mit armenischen Wurzeln gegründet wurde, den Unternehmern Ruben Vardanyan und Noubar Afeyan und Vartan Gregorian, Präsident der Carnegie Cooperation New York. Das Motto der Initiative lautet „gelebte Dankbarkeit“: „Wir sind dankbar dafür, dass viele Armenier, darunter mein Großvater, während des Genozids 1915 bis 1923 durch die Hilfe mutiger Menschen gerettet wurden, und möchten etwas zurückgeben“, sagte Ruben Vardanyan bei der Vorstellung. Die Aurora Initiative verleiht daher hochdotierte Preise an Menschenrechtler, betreibt eine Schule für geflüchtete syrische Kinder in Armenien, veranstaltet die „Aurora Dialoge“ und publiziert den Index.

Unter anderem in der Auswahl der Länder unterscheidet sich der Aurora Index von anderen Erhebungen, die nur Einstellungen in Industrieländern abfragen. Deswegen sei er eine wichtige Ergänzung zu herkömmlichen Studien, so der Migrationsexperte Steffen Angenendt, Forschungsgruppenleiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, bei der Vorstellung. „Sonst gerät leicht aus dem Blick, dass die wesentlichen Fluchtbewegungen nicht vom Süden in den Norden gehen, sondern von südlichen in andere südliche Länder.“

Die meisten Geflüchteten leben in der Türkei, Pakistan, Libanon ...

Diese verbreitete Fehleinschätzung zu den Aufnahmeländern geht auch aus den Antworten der Befragten in den 12 Ländern hervor. Die Mehrheit der Menschen glaubt, dass die entwickelten Länder, allen voran Deutschland, die meisten Flüchtlinge aufnähmen. In Wahrheit leben die meisten Geflüchteten jedoch in der Türkei, Pakistan, Libanon, Iran, Uganda, Äthiopien und Jordanien. „Auch die Berichterstattung in den Medien konzentriert sich auf die Folgen von Fluchtbewegungen für die entwickelten Länder“, sagt Maurice Selg vom Umfrageinstitut Edelman Intelligence.

Sehr unterschiedlich sind die Antworten auf die Frage, ob das eigene Land schon zu viele Flüchtlinge aufgenommen habe. Dieser Aussage stimmen im Libanon 91 Prozent der Befragten zu, in der Türkei 82 Prozent, in Deutschland 60 Prozent (2017 waren es in Deutschland noch 52 Prozent). Im Durchschnitt der Länder sind 47 Prozent dieser Meinung (in Japan nur 9 Prozent). Nur 30 Prozent glauben, dass das eigene Land Vorteile davon habe, wenn Menschen aus anderen Ländern einwanderten; den höchsten Wert erzielen hier die USA (52 Prozent), den niedrigsten die Türkei und Russland mit 16 beziehungsweise 12 Prozent. Der Index stellt eine generelle Zunahme nationalistischer Einstellungen fest.

Viele Menschen beklagen eine Überlast an humanitären Krisen

Will man die Auffassungen von Menschen erforschen, kommt es sehr auf die genaue Formulierung der Frage an. Darauf wies Cornelia Schu, Geschäftsführerin des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), hin. Der Sachverständigenrat befragt alle zwei Jahre Menschen mit und ohne Migrationshintergrund für den „Integrationsbarometer“ und stellt dabei fest: Sehr allgemein gefasste Aussagen wie „Gehört der Islam zu Deutschland?“ produzieren weit mehr Ablehnung als eine konkrete Fragestellung wie „Sollten Gläubige die Chance haben, in einer Moschee zu beten?“

Im Ganzen sehen sich laut Aurora Index viele Menschen einer „crisis overload“ gegenüber. Durchschnittlich stimmen 61 Prozent der Menschen – im Libanon sogar 82 Prozent – der Aussage zu, dass es „so viele humanitäre Krisen in der Welt gibt, dass man gar nicht hinterherkommt“.

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