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Auf der Suche nach dem Erreger: Robert Koch auf Expedition in Ostafrika.

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Zum 110. Todestag des berühmten Mediziners: Die zwielichtige Karriere des Dr. Robert Koch

Vom Nobelpreis bis zu Menschenversuchen – Robert Koch hinterlässt ein zweifelhaftes Erbe. Welche Lehren lassen sich in Coronazeiten daraus ziehen?

Die Behandlung ist nicht nur unglaublich schmerzhaft, sondern auch völlig nutzlos. Trotzdem setzt Robert Koch das grausame Experiment „mit großer Energie“ fort, wie er im Jahr 1906 in seinem Notizbuch festhält. Der nicht mehr junge Mann mit dem dichten Bart und der kleinen, runden Brille hat zu diesem Zeitpunkt alles erreicht, was sich ein Mediziner nur wünschen kann. Er blickt auf eine außerordentliche Karriere zurück, ist weltberühmt, im Jahr zuvor hat er den Nobelpreis erhalten.

Nun will Koch es noch einmal wissen. In Ostafrika sucht der 62-Jährige ein Heilmittel für die gefährliche Schlafkrankheit – und nimmt dafür Menschenversuche an einheimischen Kranken vor. Gegen ihren Willen lässt er ihnen das hochgiftige Mittel Atoxyl in die Venen spritzen. Anstatt sie zu heilen, lässt die aggressive Chemotherapie viele der inhaftierten Patienten erblinden, jeder zehnte stirbt daran.

Was Koch als „ungestörte Forschungsbedingungen“ und „glückliche Tage“ in Afrika beschreibt, sieht man heute im Berliner Robert Koch-Institut (RKI) als das „dunkelste Kapitel“ in der Laufbahn des Gründungsdirektors. „Koch hat Verbrechen in Auftrag geben, für die er sich nie rechtfertigen musste“, sagt Philipp Osten, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Hamburg. Der Geschichtsprofessor Jürgen Zimmerer fordert: „Das RKI sollte sich fragen, ob der Name für das 21. Jahrhundert noch geeignet ist.“

War der berühmte Arzt doch nicht der glänzende Held, als der er heute wahrgenommen wird?

Am Mittwoch jährt sich Kochs Todestag zum 110. Mal. Mit der Corona-Pandemie ist der Mediziner wieder ins Bewusstsein der Deutschen gerückt. Das nach ihm benannte Institut in Berlin, das die Bundesregierung im Kampf gegen Covid-19 berät, genießt einen hervorragenden Ruf.

Kochs Name steht für Fortschritt, die Rettung von Menschenleben, für einen unermüdlichen Forschergeist. Auf der Suche nach einem Wirkstoff gegen das Coronavirus eifern Wissenschaftler auf der ganzen Welt seinem historischen Vorbild nach. Doch Kochs Erbe ist widersprüchlich, von Meisterleistungen geprägt, aber auch überschattet von folgenreichen Skandalen und moralischen Fehltritten. Welche Lehren lassen sich aus seinem Lebenswerk ziehen?

Berühmter Name: Eingang des RKI in Berlin.
Berühmter Name: Eingang des RKI in Berlin.

© dpa/Paul Zinken

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Ein Medienstar im Kaiserreichs

Robert Koch, geboren am 11. Dezember 1843 in Clausthal im Harz, füllt zeit seines Lebens die unterschiedlichsten Rollen aus: Er ist Landarzt, im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 Mediziner im Sanitätsdienst, später Universitätsprofessor. Medienstar wird er auch. So wie in Corona-Zeiten kaum ein Tag vergeht, ohne dass der Name des Berliner Charité-Virologen Christian Drosten in der Zeitung steht oder der Arzt und SPD-Politiker Karl Lauterbach in einer Talkshow auftritt, stürzen sich die Medien im Kaiserreich auf die Person Koch.

Christian Drosten ist Direktor des Instituts für Virologie der Charité.
Christian Drosten ist Direktor des Instituts für Virologie der Charité.

© dpa

„Die Presse hat ihn hofiert“, sagt Osten. Der Grund ist die Entdeckung des Tuberkulose-Erregers, die ihn im Jahr 1882 auf einen Schlag weltberühmt macht. Er lebt damals mit seiner Frau Emmy und der gemeinsamen Tochter in Berlin, arbeitet als Regierungsrat für das Kaiserliche Gesundheitsamt, später als Hochschullehrer – ein „Top-Beamter mit hohem Ansehen und einem exorbitanten Gehalt“, wie Osten sagt.

Die Lungenkrankheit Tuberkulose ist zu jener Zeit die häufigste Todesursache in Deutschland. Jeder Siebte stirbt daran, bei den Säuglingen ist es jeder dritte. Wie sich die Seuche verbreitet, ist lange unklar – bis Koch das Bazillus mit einer speziellen Färbemethode unter dem Mikroskop sichtbar macht.

„Angetrieben war er vom Pioniergeist jener Zeit, in der eine enorme Aufbruchstimmung in der Wissenschaft herrschte“, sagt Osten. „Koch hat maßgeblich die Methoden entwickelt, mit denen innerhalb weniger Jahre fast alle heute bekannten krankheitserregenden Bakterien entdeckt wurden.“

Koch zum Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Labor.
Koch zum Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Labor.

© imago/Leemage

Ein regelrechter Hype entbrennt um den „Vater der Mikrobiologie“, als Koch bei einem Kongress 1890 das TBC-Heilmittel Tuberkulin präsentiert. In Zeitungskolumnen und Gedichten wird er in den Himmel gelobt, Ärzte und Kranke aus ganz Europa pilgern nach Berlin. „Überall konnte man rote Taschentücher mit dem lorbeerumkränzten Porträt des Retters kaufen“, schreibt die Autorin Ulrike Moser in ihrem Buch „Schwindsucht“.

Doch die Euphorie bricht noch im selben Jahr in sich zusammen. Tuberkulin stellt sich als unbrauchbare, ja gefährliche Mixtur heraus, die viele Patienten tötet. Für Hunderttausende TBC-Kranke stirbt damit die Hoffnung auf Heilung; für Koch platzt der Traum vom ganz großen Geld. Die Regierung führt als Konsequenz neue Regeln für die Arzneimittelzulassung ein.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]

„Die Medizin ist demokratischer geworden“

Überraschenderweise erleidet Kochs Ansehen durch den Tuberkulin-Skandal keinen nachhaltigen Schaden. Im folgenden Jahr wird er zum Chef des „Königlich Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten“ ernannt, dem heutigen RKI. „Für Ärzte wie Koch wurde das Bild der Halbgötter in Weiß geprägt“, erzählt Osten. „Was er sagte und tat, wurde von der breiten Öffentlichkeit als richtig angesehen, selbst wenn Experten skeptisch waren.“

In Corona-Zeiten sei das anders, sagt Osten. „Das Wissen ist viel breiter gestreut als damals.“ Heute stellen Top-Mediziner wie der Virologe Drosten oder der RKI-Präsident Lothar Wieler ihre Erkenntnisse und Methoden zur öffentlichen Diskussion, bemühen sich um Transparenz. Kritische Fragen aus Politik und Wirtschaft sowie von Medien und Bürgern sind ausdrücklich erlaubt. Osten formuliert es so: „Die Medizin ist demokratischer geworden.“

Koch-Nachfolger: RKI-Präsident Lothar Wieler.
Koch-Nachfolger: RKI-Präsident Lothar Wieler.

© dpa/Markus Schreiber

Das Verhältnis zur Politik beschäftigt auch Robert Koch immer wieder. Als im Jahr 1892 in Hamburg eine Cholera-Epidemie ausbricht, wird der Mediziner selbst zum politischen Akteur – als Krisenmanager.

Die gefährliche Durchfallerkrankung breitet sich Mitte August im Hamburger Gängeviertel aus, allein in den ersten Tagen gibt es Hunderte Tote. Die hygienischen Zustände in den Arbeitersiedlungen der Stadt sind zu jener Zeit katastrophal. Der Hamburger Senat ist heillos überfordert.

Koch und der Hamburger Cholera-Lockdown

Um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen, schickt die Reichsregierung in Berlin ihren Spitzenbeamten Koch in die Hansestadt. Der verhängt einen harten Lockdown und legt in kürzester Zeit das öffentliche Leben lahm: Tanzveranstaltungen werden untersagt, der Hafen unter Quarantäne gestellt, Reisebeschränkungen und eine Meldepflicht für Kranke erlassen.

Die Hamburger Kaufleute protestieren, auch der Senat stemmt sich aus Sorge um die Wirtschaft anfangs gegen die harten Maßnahmen. Doch Koch setzt sich durch. Nach drei Monaten mit 17000 Erkrankten und 9000 Todesopfern ist die Epidemie vorüber.

Verteilung von sauberem Trinkwasser in der Hamburger Cholerakrise.
Verteilung von sauberem Trinkwasser in der Hamburger Cholerakrise.

© mauritius images / Antiqua Print Gallery / Alamy

Dass es nicht zu noch mehr Opfern kommt, ist Kochs rigorosen Lockdown-Maßnahmen zu verdanken. „Er war da durchaus ein Positivbeispiel“, sagt Osten. Hamburg entwickelt sich in den Folgejahren zur Hygiene-Vorzeigestadt; der Wohnungsbau wird reformiert, die Wasserversorgung erneuert. Kochs Ideen sind Grundlage des „Reichsseuchengesetzes“, an dessen Stelle heute das Infektionsschutzgesetz steht. „Inzwischen ist das alles längst Konsens“, sagt Osten.

In der Coronakrise scheint der allerdings an manchen Stellen zu bröckeln. Viele fragen sich: Sind die von Bund und Ländern verordneten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus noch verhältnismäßig? Oder ist der wirtschaftliche Preis, den Deutschland für den Gesundheitsschutz zahlt, zu hoch? Wie weit dürfen Mediziner und Politiker im Kampf gegen die Pandemie gehen?

Für Koch spielen solche Fragen seinerzeit keine Rolle. Wirtschaftliche Interessen, Reisefreiheit, Grundrechte – er ordnet alles dem medizinischen Ziel unter: dem unbedingten Sieg über die Epidemie. „Für ihn stand die Hygiene über allem“, sagt Osten. Und: „Koch ging es nicht um den einzelnen Kranken.“

Seltsam vertraut: Das Argument, Patienten wären eh gestorben

Das beweist Koch auch in seinem Kampf gegen die sogenannte afrikanische Schlafkrankheit, in dem er am Schluss sogar über Leichen geht. Angetrieben von einer „Mischung aus Abenteuerlust und der Suche nach einem Luftkurort“, wie Osten es formuliert, reist der damals über 60-jährige Koch mit seiner zweiten Frau Hedwig in die Tropen – auf Bitten der britischen Regierung.

„Dass die Mächtigen Kochs Hilfe brauchten, dürfte ihm geschmeichelt haben“, meint der Kolonialismusexperte Jürgen Zimmerer. „Auch deshalb hat er wohl die beschwerliche Reise nach Ostafrika auf sich genommen.“

Koch soll der britischen Kolonialverwaltung dabei helfen, ein Mittel gegen die weitverbreitete Schlafkrankheit zu finden, die damals fast ausnahmslos zum Tod führt. Koch soll die Epidemie stoppen – und so nicht nur die Gesundheit der europäischen Kolonialbeamten und Siedler schützen, sondern auch die Arbeitskraft der afrikanischen Bevölkerung sichern.

„Das Ziel war die Nutzbarmachung der Kolonien“, sagt Zimmerer. Kochs Auftrag in Ostafrika fasst der Historiker so zusammen: „Menschen zu heilen und damit gleichzeitig bei ihrer Ausbeutung zu helfen.“

Der Mediziner stellt sich dafür bereitwillig zur Verfügung – und entwickelt immer rücksichtslosere und radikalere Ideen für die „Stilllegung der Seuchenherde“. Koch will ganze Dörfer umsiedeln, das Vieh vertreiben, Landstriche entvölkern und Wälder abholzen lassen – alles für die Hygiene. Sogar die Einrichtung von „Concentration Camps, wie sie die Engländer nennen“, fordert er, um dort die Kranken von den Gesunden trennen zu können.

Atoxyl-Behandlung in einem Lager im heutigen Uganda.
Atoxyl-Behandlung in einem Lager im heutigen Uganda.

© mauritius images / The Reading Room / Alamy

In einem dieser Lager, auf den Sese-Inseln im Viktoriasee, unternimmt Koch ab 1905 seine Menschenversuche mit dem arsenhaltigen Mittel Atoxyl. Die grausamen Experimente an den einheimischen Kranken verteidigt er mit dem Argument, dass die inhaftierten Patienten „an einer absolut tödlichen Krankheit litten und unrettbar verloren waren, wenn nicht ein Heilmittel gefunden wurde“. Eine Medizin gegen die Schlafkrankheit entdeckt er nicht.

Koch stirbt am 27. Mai 1910 in Baden-Baden an den Folgen eines Herzanfalls. Seine Asche wird in einem Mausoleum in Berlin beigesetzt – im Westflügel des bekannten Instituts, das bis heute Robert Kochs Namen trägt.

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