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Das Gaswerk Schöneberg entstand bereits 1871. Von den ursprünglich vier Gasometern ist nur noch einer mit neuem inneren Baukörper erhalten.  Er ist heute Mittelpunkt des dortigen Euref-Campus.

© Andreas FranzXaver Süß/bzi.

Industriekultur zum Nachradeln: Steinerne Ikonen in Tempelhof-Schöneberg neu entdecken

Das Berliner Zentrum Industriekultur erinnert an die Monumente der Wirtschaftsgeschichte im Bezirk. Das bedeutendste ist der Flughafen Tempelhof.

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Gasometer gelten gemeinhin als Immobilien: Einmal irgendwo hingepflanzt, bleiben sie dort stehen, bis man sie nicht mehr braucht und verschrottet. Aber in Ausnahmefällen erweist sich ein solcher Gasometer als erstaunlich mobil, begibt sich gar auf Reisen – wie der des ehemaligen Gaswerks Mariendorf an der Lankwitzer Straße.

Ursprünglich stand er in Wien, ging 1892 als größter Gasspeicher des Kontinents für die Imperial-Continental Gas Association (ICGA) in Betrieb. Kurz darauf aber übernahm Wiens Stadtverwaltung die Gasversorgung selbst, und das britische Unternehmen wurde ausgebootet.

Ein Gasometer auf Wanderschaft

Auch Berlin und seine umliegenden Gemeinden gehörten zu den Kunden der ICGA. Sie hatte dort zwischen 1826 und 1899 bereits sechs Gaswerke errichtet, darunter das in Schöneberg, und baute für ihr siebtes den Wiener Gasometer kurzerhand ab und in Mariendorf wieder auf.

Von der Frühgeschichte des Gaswerks Mariendorf zeugt auch der alte Wasserturm. Der neue Wasserturm und die beiden hinter Bäumen versteckten Kugelgasbehälter stammen aus den 1960er Jahren.

© Andreas FranzXaver Süß/bzi

Dort steht er noch immer, denkmalgeschützt in dem zum Gewerbepark umgewandelten Areal, und erinnert wie der imposante alte Wasserturm, weitere Backsteinbauten und der am Teltowkanal gelegene, einst für die Anlieferung der Kohle unabdingbare Mariendorfer Hafen an die frühe Phase der städtischen Gasversorgung.

An letzterer hatte die ICGA nur zeitlich begrenzt Anteil, war während des Ersten Weltkriegs als Feindfirma enteignet worden. Gasproduktion und globale Lage sind eben seit jeher eng verflochten. So folgte die Stilllegung des Mariendorfer Gaswerks 1996 aus der elf Jahre zuvor begonnenen Versorgung auch West-Berlins mit russischem Erdgas. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist sie wieder Geschichte.

Der Gasometer des Gaswerks Mariendorf stand ursprünglich in Wien.

© Andreas FranzXaver Süß/bzi

Ein typischer Verlauf: Gerade in Berlin sind historische Industriebauten wie das Mariendorfer Gaswerk ebenso wie jenes in Schöneberg, das zum Euref-Campus umgewandelt wurde, nicht nur stadtbildprägend. Vielmehr sind sie als Zeugnisse der Wirtschafts- und Architekturgeschichte, als Spiegel politischer wie sozialer Prozesse erhaltenswerte Kulturgüter par excellence.

Dieses Erbe zu bewahren und zu beleben hat sich das Berliner Zentrum Industriekultur (bzi) zum Ziel gesetzt, eine Kooperation der Hochschule für Technik und Wirtschaft, der Stiftung Deutsches Technikmuseum und der obersten Denkmalschutzbehörde. Das geschieht mittels Tagungen, Führungen, Ausstellungen – und Publikationen wie dem soeben, als vierter Band einer Reihe erschienenen Heft zu herausragenden Zeugnissen der Industriekultur im Bezirk Tempelhof-Schöneberg.

Dessen Reichtum an solchen Erbstücken täuscht darüber hinweg, dass sich in den damals noch nicht zu Berlin gehörenden, erst 1920 zu Stadtbezirken zusammengefassten Randgemeinden relativ spät industrielle Zentren bildeten. In Schöneberg begann die wirtschaftliche Entwicklung in Hinterhoffabriken.

Selbst der Bau der Zentralwerkstatt der Berlin-Anhaltinischen Eisenbahn samt weiterer angeschlossener Bahnanlagen in den 1870er und 1880er Jahren – dem späteren, trotz des Namens in Schöneberg liegenden Reichsbahnausbesserungswerk Tempelhof – änderte nichts an dieser Kleinteiligkeit der Produktionsstätten.

Sie begann sich erst Anfang des vorigen Jahrhunderts aufzulösen, 1905 mit der Fabrik der Telekommunikationsfirma Mix & Genest neben Sachsendamm und A 100.

Für den Star-Architekten Sir Norman Foster ist der Flughafen Tempelhof die „Mutter aller Flughäfen“.

© Andreas FranzXaver Süß/bzi.

Die Landgemeinden des späteren Bezirks Tempelhof waren dagegen durch die lange Nutzung des Tempelhofer Felds als Parade- und Exerzierenfeld von der industriellen Entwicklung abgeschnitten. Das änderte sich erst mit dessen Umwandlung zum Flugfeld mit ersten Bauten im Jahr 1923 und dem Flughafen in seiner heutigen Gestalt ab 1935.

Mutter aller Flughäfen.

Sir Norman Foster über den Flughafen Tempelhof

Der alte Airport, für Star-Architekt Sir Norman Foster die „Mutter aller Flughäfen“, ist zweifellos das bedeutendste wie bekannteste Beispiel Berliner Industriekultur in Tempelhof-Schöneberg. Ihm wurden denn auch als einzigem im Heft zwei Doppelseiten zugebilligt, auf denen die wechselhafte Geschichte wie wegweisende Architektur gewürdigt wird.

In der Ufa-Fabrik wurden ursprünglich Filme entwickelt, kopiert und geschnitten.

© Andreas FranzXaver Süß/bzi

Beteiligt am Bau des Flughafens war eine weitere Industrie-Ikone des Bezirks, ein Traditionsunternehmen, das trotz seiner stadtbildprägenden Rolle allmählich in Vergessenheit gerät: die Firma Druckemüller/Krupp Stahlbau, bis zur Auflösung 2002 ansässig auf dem von Tempelhofer Weg, Teltowkanal und Gottlieb-Dunckel-Straße umgrenzten Areal in Tempelhof. Gewerbebetriebe nutzen heute ihre übrig gebliebenen Gebäude.

Von ihr stammen unter anderem die Stahlkonstruktionen der Hangar- und Flugsteigdächer des Flughafens, die des Shellhauses am Reichpietschufer, der Neuen Nationalgalerie wie auch die Dachkonstruktion des ICC. Im Zweiten Weltkrieg formte die Firma dagegen U-Boot-Rümpfe, nutzte dabei wie viele andere der im Heft genannten Firmen Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen.

Der erste deutsche Panzer kam aus Marienfelde

So auch die 1926 aus der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) und der Benz & Cie. AG fusionierte Daimler-Benz AG. Die DMG hatte 1902 die in Konkurs gegangene Motorfahrzeug- und Motorenfabrik Berlin südlich der Marienfelder Daimlerstraße übernommen. Dort war 1916 mit dem A7V der erste deutsche Panzer entwickelt und produziert worden – eine unförmige, unbeholfen durchs Gelände kriechende Stahlkiste.

Aus einem Rangierbahnhof, an den noch ein alter Wasserturm erinnert, wurde der Natur Park Südgelände.

© Andreas FranzXaver Süß/bzi.

Innerhalb der heutigen Mercedes-Benz Group AG ist die Marienfelder Filiale das älteste produzierende Werk. 1988 kam auf der gegenüberliegenden Straßenseite noch der 1915 entstandene Komplex der Fritz-Werner-Maschinenfabrik hinzu. Vor fünf Jahren noch von Schließung bedroht, hat dort der Mercedes-Benz Digital Factory Campus seinen Sitz, ein Kompetenzzentrum für Digitalisierung im globalen Produktionsnetzwerk des Unternehmens. Auch sollen in Marienfelde künftig hocheffiziente Elektromotoren montiert werden.

Ein gelungenes Beispiel für die Anpassung historischer Industriearchitektur an die Bedürfnisse der modernen Wirtschaft, wenngleich im Ergebnis nicht ganz so bunt wie beim alternativen Kultur- und Sozialprojekt der Ufa-Fabrik in der Tempelhofer Viktoriastraße. Einst wurden dort die in den nahen Ufa-Studios der Oberlandstraße gedrehten Filme entwickelt, kopiert und geschnitten.

Und lange nicht so grün wie im Natur Park Südgelände, an dessen Vergangenheit als Rangierbahnhof neben einem eleganten Stahlturm mit kugelförmigem Wasserbehälter und einigen alten, heute als Ateliers oder Café genutzten Bahnbauten eine alte Dampflok erinnert. Zwar keine Borsig und auch keine Schwartzkopff aus Berlin, vielmehr von Henschel aus Kassel, aber immerhin das Grünzeug drumherum sind originale Berliner Pflanzen.

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