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Die Schrifstellerin und Journalistin Gabriele Tergit.

© Jens Brüning c/o Schöffling & Co

Gabriele Tergit und der Tagesspiegel: „Rindvieh immer rechts“

Den Nazis entkommen, schrieb Gabriele Tergit nach dem Krieg für den Tagesspiegel. Es wurde ihr nicht leicht gemacht.

Von Markus Hesselmann

Genau zu beobachten und als bemerkenswert herauszuarbeiten, was andere offenbar für normal hielten und übergingen, das war eine ihrer großen Stärken. „Ich kam zu Reger“, schreibt Gabriele Tergit, als Jüdin von den Nazis ins Exil getrieben und jetzt zu Besuch aus London in Berlin, beim Tagesspiegel und dessen Gründer im Tempelhofer Ullsteinhaus. „Reger saß in einem sehr großen Zimmer hinter einem Schreibtisch. Das Zimmer war mit einem grünen Teppich ausgelegt, Reger sah verhungert aus, aber das Zimmer wäre zu allen Zeiten das noble Büro des Chefs gewesen. Und daneben die Sekretärinnen, ein Loch, in dem drei Mädchen saßen, zwei Tische mit Schreibmaschinen stießen aneinander, der dritte dagegen. Zwei der Mädchen konnten das Zimmer nur verlassen, wenn die Dritte aufstand.

Dies im Kontrast zum Nachkriegs-Berlin, wie sie es auf ihrer Reise erlebte: „Eine Stadt, die durch die Hölle der Fliegerangriffe gegangen war, durch die Eroberung durch plündernde und vergewaltigende Truppen, deren Kommandeure selber von einem Zusammenbruch der Disziplin gesprochen hatten, und dann ein Büro als Repräsentation! Und eine merkwürdige Gefühllosigkeit gegen die Angestellten, die es im alten Ullsteinregiment nie gegeben hatte."

Die Szene aus Gabriele Tergits Erinnerungen „Etwas Seltenes überhaupt“ steht für „das schwierige Wiederankommen Tergits im Literatur- und Pressebetrieb“ der Nachkriegszeit in Berlin und Deutschland, wie es im neuen „Text + Kritik“- Band über Gabriele Tergit thematisiert wird, der im Oktober erscheint. Herausgeberin Juliane Sucker hat uns zum Tagesspiegel-Jubiläum einiges daraus vorab zur Verfügung gestellt. „Als Exilierte fand Tergit nicht mehr recht in ihr angestammtes literarisches und publizistisches Milieu zurück“, schreibt sie uns dazu.

Romane und Gerichtsreportagen

In der Weimarer Republik hatte Gabriele Tergit Erfolg mit ihrem Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, in dem sie den Medien-Hype um einen Volkssänger mit angeschlossenem Immobilien-Pleiteprojekt beschreibt, und journalistisch vor allem mit ihren Gerichtsreportagen, soeben bei Schöffling neu veröffentlicht wie zuvor schon ihre Romane. Den Nazis nur knapp entkommen, wollte Gabriele Tergit nun publizistisch wieder Fuß fassen. Das misslang weitgehend. Bei Spiegel.de heißt es, „sie starb 1982, ohne je wieder etwas veröffentlicht zu haben“. Das stimmt nicht, denn sie schrieb dann doch von London aus einige Beiträge, zum Beispiel für den Tagesspiegel. Aber es hätten so viele mehr sein können.

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England – das war für Gabriele Tergit das Land, in dem sie sich verstanden fühlte. Auch in ihrem Roman „Effingers“, von Rowohlt einst abgelehnt und vom Tagesspiegel bei der aktuellen Auflage 2019 als „mitreißendes, erhellendes und aufgrund der Niedergangsthematik auch bedrückendes Buch“ gelobt, kontrastierte sie Deutschland damit. Anders als auf der Insel gebe es in Deutschland „keinen Respekt vor kaufmännischer Redlichkeit und Ehre, denn es gibt nur einen Respekt vor militärischer Ehre“. Und mit Antisemitismus steige man auf, lässt sie eine ihrer Figuren sagen.

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Blick ins Tagesspiegel-Archiv

„Land ohne Fahnen“, hieß einer der ersten Texte von Gabriele Tergit, die im Tagesspiegel-Archiv zu finden sind. Von 1947, über England. Und dass dort auch bei zunehmenden alliierten Erfolgen kein Triumphgeheul ausbrach. „In England wurde nicht geflaggt, weil die Engländer einen Krieg für ein Unglück halten, immer und überall. Flaggt man bei einem Bergwerksunglück? Flaggt man bei einem Erdbeben? Die Engländer empfinden einen Krieg nicht anders. Eine Stadt zu erobern, ein Land zu erobern, gilt in englischen Augen als eine schwierige Aufgabe, nicht als Triumph.“ Auch in Deutschland sei das so gewesen – vor Wilhelm II.

In den späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren wollten die allermeisten Deutschen so etwas nicht lesen. Auch nicht so sehr, dass „in Deutschland Rindvieh immer rechts“ ist, wie sie 1948 im Tagesspiegel unter der schlichten Rubriken-Überschrift "Das Feuilleton" schrieb und sich über deutschtümelndes Naturgewese lustig machte. Dagegen England: „Die Natur gilt, wie so vieles andere in diesem Lande, weder als Partei- noch als Fachangelegenheit. Weder beschimpft man sich ihretwegen, noch verweist man sie aus dem Bereich der allgemeinen Bildung in das Ressort des Landwirtschaftsministers.“

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Oder, erneut Deutschland und England kontrastierend: Das britische Weltreich habe "eine moralische Grundlage", eine "pax britannica" sei das Ziel, schrieb Gabriele Tergit im Tagesspiegel. "Als Deutschland zum zweiten Male das mächtigste Land Europas war, als es sich Oesterreich und das Sudetenland einverleibt hatte, wurde dieser Höhepunkt der Macht keineswegs zu einer pax germanica benutzt, sondern zum Rassenhaß und zur Brandstiftung in Gotteshäusern."

[Ab dem 27. September, an dem vor 75 Jahren die erste Tagesspiegel-Ausgabe erschien, twittern wir Themen und Texte von 1945 aus dem Tagesspiegel-Archiv, jeweils "Heute vor 75 Jahren" #OTD. Zu finden hier: https://twitter.com/Erik_Reger]

Exil vs. "innere Emigration"

Nicole Henneberg, die Tergits Werke herausgibt, schreibt in „Text + Kritik“ über die „unfreundliche Aufnahme im Berliner Kulturbetrieb, auch in den Zeitungsredaktionen, wo man ihre Kritik nicht verstand“. Auch von Walther Karsch, Tagesspiegel-Mitgründer und früherer „Weltbühne“-Redakteur, fühlte sie sich missverstanden. „Na Tergit, stehlen!“, erwiderte Karsch, als sie ihm vorhielt, die von Juden erfundene Tiefdruckbeilage „Weltspiegel“ gestohlen zu haben. Dabei habe er sich in der Nazizeit „hochanständig“ verhalten, fügt sie an.

„Karsch schrieb keine Zeile unter Hitler. Er hatte sich im Winter 1932/33 von seiner jüdischen Frau scheiden lassen wollen, was er nun bis 1945 verschob, und sorgte dafür, daß sie überlebte", heißt es in „Etwas Seltenes überhaupt“. Die Geschichte von Pauline Nardi und Walther Karsch hat der Historiker Andreas Petersen unter dem Titel "Eine Liebe in Trauma-Deutschland" beschrieben.

Karschs "innere Emigration" war konsequenter als die seiner Tagesspiegelgründer-Kollegen. In Peter Köpfs Studie "Schreiben nach jeder Richtung. Goebbels-Propagandisten in der westdeutschen Nachkriegspresse" werden Erik Reger und Edwin Redslob genannt. "Seine Bücher waren zwar von den Nationalsozialisten verboten worden, und er emigrierte 1934 in die Schweiz", schreibt Köpf über Reger, "aber 1936 kehrte er zurück, wurde Mitglied der Reichsschrifttumskammer und veröffentliche Novellen bei Rowohlt. Von 1938 bis 1945 war er Angestellter des Deutschen Verlags, den die Nationalsozialisten der Familie Ullstein abgepreßt hatten."

Redslob schrieb Köpf zufolge für "Das Reich", also die "Zeitung, die Goebbels Woche für Woche mit Leitartikeln versorgte" oder für das Belgrader NS-Besatzungsblatt "Donauzeitung".

Vor allem aber befasst sich Köpf mit Karl Silex - und zitiert dabei den Tagesspiegel vom 7. Juni 1949: "Jener Silex, der das Impressum der Deutschen Allgemeinen Zeitung in ihrer wildesten NS-Zeit zierte, findet sich seit zwei Wochen als Chefredakteur des neuen Heidelberger Tageblatts wieder." Als NS-"Einpeitscher" wurde Silex im Tagesspiegel bezeichnet und in der süffisanten Rubrik "Vor Jahren" gab es immer wieder Silex-Zitate aus dessen DAZ-Zeit, etwa dieses hier: "Die Engländer haben das deutsche Kriegspotential unterschätzt. Wir sind überzeugt, daß auch das Mittelmeer frei werden wird, frei von der britischen Herrschaft. Den Termin und den Ort bestimmen wir" (1940) . "Jener Silex" wurde 1955 Chefredakteur des Tagesspiegels.

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Ressentiments gegenüber denen, die in der Nazi-Zeit emigrierten, sind in den frühen Tagesspiegel-Jahrgängen immer wieder herauszulesen. Ein Höhepunkt ist ein Beitrag des Feuilleton-Chefs Walter Lennig über Peter de Mendelssohn, der als alliierter Presseoffizier 1945 die Gründung des Tagesspiegels entscheidend mitermöglicht hatte. Da ist dann wenige Jahre später von dessen "englischer Wahlheimat" die Rede, als ob der in München geborene de Mendelssohn als Jude unter den Nazis irgendeine Wahl der Heimat gehabt hätte.

Was war geschehen? Mendelssohn hatte über "die moralischen Möglichkeiten des Intellektuellen in der totalitären Gesellschaft" geschrieben und unter anderem Gottfried Benn - übrigens Lennigs Freund und Nachbar - und Ernst Jünger attackiert. Lennig dagegen will - man fühlt sich an heutige Debatten erinnert - die Moral aus Literatur und Literaturkritik heraushalten und hätte es am liebsten, wenn jetzt mal Schluss sei mit dem Nazi-Nachkarten. "Besteht eine aktuelle Notwendigkeit, das alles heute wieder aufzutischen? Ist das nicht dahin wie die Welle des Heraklit?" Dies 1953.

Ungestellte Fragen

Mit Blick auf die Aufarbeitung des Journalismus in der NS-Zeit zitiert Elke-Vera Kotowski vom Moses-Mendelssohn-Zentrum der Universität Potsdam eine wichtige Stelle aus Gabriele Tergits Autobiographie. Dort beschreibt die frühere Gerichtsreporterin einen Nachkriegsbesuch im Moabiter Gericht: "Auf dem Korridor traf ich zwei alte Kollegen. Waren sie die ganzen fünfzehn Jahre hier von Verhandlungszimmer zu Verhandlungszimmer gegangen und hatten über den Mord an Lieschen Schmidt berichtet, während Tausende unter den Häusern lagen?" Derartige Fragen habe Tergit öffentlich stellen wollen, schreibt Kotowski in "Text + Kritik", und auch aus diesem Grund habe Gabriele Tergit für den Tagesspiegel schreiben wollen.

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Zu denen, die verhinderten, dass daraus wirklich etwas wurde, gehörte der Publizist Kurt Hiller. Der Historiker Reinhold Lütgemeier-Davin befasst sich in „Text + Kritik“ mit dem 1941 zwischen Tergit und Hiller entfachten Streit über einen „Guardian“-Artikel von ihr über Nazi-Vorläufer, zu denen sie Hiller zählte.

„Aussöhnung blieb für Kurt Hiller ausgeschlossen“, schreibt Lütgemeier-Davin. „Ja, wenn sich für Gabriele Tergit berufliche Perspektiven bei Zeitungen eröffneten, und sei es nur die Platzierung von gelegentlichen Beiträgen, so versuchte er dies zu hintertreiben. Als er zum Beispiel erfuhr, Tergit sei ständige Mitarbeiterin des Berliner Tagesspiegel, intervenierte er mit Erfolg beim Herausgeber, seinem Freund Walther Karsch.“ Um eine Mitarbeit bei der Münchener „Neuen Zeitung“ zu verhindern, „warnte“ Hiller deren Redakteur Erich Kästner.

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In einer biographischen Notiz schreibt „Text + Kritik“-Herausgeberin Juliane Sucker zusammenfassend, dass Gabriele Tergit an ihre erfolgreiche Zeit als Gerichtsreporterin anzuknüpfen versuchte. Es blieb aber bei sporadischen Beiträgen – häufig unbezahlt.

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