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Eigentlich wollte Betül Ulusoy im Juli 2015 ihr Referendariat im Neuköllner Rathaus beginnen, doch ihr Kopftuch ist dort nicht gern gesehen.

© Anna Agliardi/Exberliner

Streit in Neuköllner Bezirksamt: Betül Ulusoy will mit Kopftuch Karriere machen

Ihr Tuch trägt sie schon in der Grundschule. Seitdem hat es Betül Ulusoy viel Ärger gebracht. Doch Bedeckung bedeutet für sie Emanzipation. Auch wenn es die Karriere kostet.

Am Montag hatte sie die Zusage. Im Juli würde sie ihr Referendariat im Berliner Bezirksamt Neukölln beginnen, am Dienstag ging sie hin, um den Vertrag zu unterschreiben. Auf dem Amt schaute man sie verblüfft an. Was war denn das da an ihrem Kopf? Betül Ulusoy las die unmäßige Überraschung im Gesicht des Beamten: Eine junge Frau mit Kopftuch! Er selbst sei da zwar ganz und gar leidenschaftslos, begann er, aber seine Institution fahre „eine ganz klare Linie“, sie stelle nicht einmal Praktikantinnen mit Kopftuch ein. Er würde den Fall weitergeben.

Die 26-jährige Absolventin der Rechtswissenschaft Betül Ulusoy verstand sofort, dass es da nichts mehr zu unterschreiben gab.

Von einem Augenblick auf den anderen war sie nicht mehr Betül Ulusoy, die erwachsene selbstbewusste Juristin, sondern wieder das unverstandene und gedemütigte kleine Mädchen Betül, nur dass sie nicht mehr so reagieren konnte wie damals: heulend nach Hause laufen. „Ich müsste mich über die Jahre an die immer gleichen Diskriminierungen gewöhnt haben“, sagt sie, „aber es ist nicht so.“ Sie sei wütend, dass ihr das immer noch nahegehe. Wütend auf das eigene Zittern. Und schrieb, statt ihres Namens unter einen Vertrag, einen neuen Blogeintrag.

Sie ist schön, anders als auf dem Foto ihres Blogs, aber schön. Das beige Tuch, nachlässig und sorgfältig zugleich um ihren Kopf gelegt, rahmt ihr kluges Gesicht, hebt es hervor. Die meisten Menschen müssen ohne solche Rahmen auskommen. Sie grüßt nach allen Seiten, hier in der Sehitlikmoschee in Neukölln am Columbiadamm.

Sie kämpft für das Kopftuch als Zeichen des Fortschritts

Irgendwann haben die großen Redaktionen dieses Landes begonnen, Betül Ulusoy zu fragen, wenn sie etwas über das Kopftuch und seine Trägerinnen wissen wollen. Und als im April eine Schocktruppe des Feminismus den europaweiten „Topless Jihad Day“ ausrief – oben ohne für die Befreiung der muslimischen Frau –, gründete sie die Facebook-Gruppe „Muslima Pride“.

Betül Ulusoy kommt parkplatzsuchebedingt ein wenig zu spät, ist aber trotzdem nicht dafür, gleich anzufangen, denn sie hat ihr Nachmittagsgebet noch nicht verrichtet. Sie betritt das große und doch unendlich filigrane Bethaus und stellt ihre Schuhe auf ein Regal gleich neben der Tür. Die Moschee ist fast leer. Sie könnte jetzt nach vorn laufen wie in einer Kirche und den ganzen Kuppelraum mit ihrem Gebet ausfüllen. Doch das ist unmöglich.

Männer und Frauen beten nicht gemeinsam. Und da, wo ein Mann betet, kann keine Frau beten. Also steigt sie eine schmale Wendeltreppe hinauf zur Frauenempore und beginnt in aller Unbefangenheit ihre Zwiesprache mit Gott. Die Zuschauerin stört sie nicht. Das ist nicht nur ein stilles Händefalten, das ist ein Niederknien, Armeöffnen, Zubodengehen, Aufstehen.

Diese junge Muslima hat einen seltsamen Kampf begonnen. Sie hat ihn zwar nie definiert, aber vielleicht lässt er sich so umschreiben: Betül Ulusoy kämpft für die Anerkennung des Kopftuchs als Zeichen des Fortschritts, der Schönheit sowie der weiblichen Selbstbestimmung und eines rücksichtsvollen gesellschaftlichen Miteinanders. Sie nennt das auch den „emanzipatorischen Aspekt der Bedeckung“. Was für eine Formulierung!

Franziska Giffey ist Bezirksbürgermeisterin von Neukölln. Mitarbeiterinnen, die Kopftuch tragen, möchte sie lieber nicht so gern mit Bürgern in Kontakt kommen lassen.
Franziska Giffey ist Bezirksbürgermeisterin von Neukölln. Mitarbeiterinnen, die Kopftuch tragen, möchte sie lieber nicht so gern mit Bürgern in Kontakt kommen lassen.

© dpa

Im März hatte das Bundesverfassungsgericht beschlossen, das Kopftuchverbot an Schulen dürfe nicht pauschal gelten.

Dass die neue Neuköllner Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey das Urteil möglichst nicht umsetzen wolle, zum Schutz muslimischer Frauen und Mädchen, klingt in Betül Ulusoys Ohren wie Ironie. Franziska Giffey sagt zum Stand der Dinge: „Wir haben Betül Ulusoy noch überhaupt nicht abgewiesen.“ Grundsätzlich wolle man gerade bei Mitarbeitern mit „Bürgerkontakt“, wie es im Amtsdeutsch heißt, im Bezirksamt allerdings das Kopftuch vermeiden. Nun beraten sie.

Vor der Moschee stehen Bänke in der frühen Abendsonne, der ideale Platz für ein Gespräch über Gott, das Kopftuch und die Welt.

"Unsere Gebete sind sehr körperbetont"

Warum hat der Anblick betender Muslime für viele oft etwas Beklemmendes? Weil wir in diesen massenhaft gebeugten Rücken auf der Erde zu ungemildert die Geste der Unterwerfung erkennen? Betül Ulusoy scheint diese Gedanken zu erraten. „Wie Sie gesehen haben, sind unsere Gebete sehr körperbetont“, sagt die junge Frau, die ihr Jura-Studium mit 24 Jahren beendet hat. So kann man das auch sehen: Gottesfitness. Und das sei auch der Grund, warum Männer und Frauen nicht zusammen beten. Denn es sei oft unglaublich eng, man stehe Schulter an Schulter, „da sollten sich alle wohlfühlen“.

Es handele sich bei der Trennung von Mann und Frau demnach um ein besonderes Feingefühl, schlussfolgert Betül Ulusoy und ihr sanft forschender Blick überprüft die Wirkung ihrer Worte. Eine Gruppe fremder Männer und zwei Frauen treten auf sie zu. Sie wollen wissen, wo hier die Frauen beten dürfen. Natürlich fragt der Mann. Eine der Frauen ist so verschleiert, dass nur ein Spalt für die Augen bleibt. Man kommt nicht auf die Idee, dass zu diesen Augen ein Mund gehört, der selber spricht, und auch Betül Ulusoy antwortet nicht dieser Frau, sondern dem Mann.

Das Gebet ist im Islam sehr körperbetont, oft ein Gemeinschaftserlebnis. Auf einige Europäer wirkt es deshalb befremdlich.
Das Gebet ist im Islam sehr körperbetont, oft ein Gemeinschaftserlebnis. Auf einige Europäer wirkt es deshalb befremdlich.

© dpa

Betül Ulusoy strahlt eine Selbstgewissheit aus, in der eine kaum merkliche Herablassung schwingt, die von Zuwendung nicht zu unterscheiden ist. Sie spricht so lächelnd-gedämpft, als sei sie in einer Vorstandsetage sozialisiert worden, oder im diplomatischen Dienst. Und doch ist alles an ihr Präsenz. Traditionalisten sehen es als Aufgabe einer muslimischen Frau, dazusein, als wäre sie nicht da. Aber zum Hintergrundmenschen hat diese junge Frau kein Talent, darin ist sie doch ganz Kind dieser Zeit.

Betül Ulusoy ist ein ganz normales Berliner Mädchen mit türkischen Wurzeln. Über ihre Eltern spricht sie grundsätzlich nicht, weil beide keine Lust hätten auf eine Medienkarriere als Vater und Mutter der Kopftuchträgerin Betül Ulusoy. Denn auch sie sind ganz normale türkische Berliner, also eher keine Intellektuellen. Dennoch waren sie schockiert, als ihre Tochter ihnen im Grundschulalter mitteilte, dass sie von nun an das Kopftuch tragen werde. Mach das nicht, oder mach es erst nach dem Abitur!, bat die Mutter. Man habe es nicht einfacher damit. Betül Ulusoys Vater, der im Übrigen der Meinung ist, der Mensch müsse nicht unnötig auffallen, teilte seiner Tochter mit, dass sie zu jung sei, um eine solche Bürde zu tragen. Ihre Lieblingstante erklärte, im Kopftuch-Ernstfall nicht mehr mit ihr ins Kino zu gehen und auch sonst nirgendwohin, es sei zu peinlich, zu rückständig.

Erst im Gymnasium fiel ihr auf, dass sie auffiel

Kann ein Kind rückständig sein?

Die Erziehungsberechtigten der Familie Ulusoy hatten wenig Chancen, denn dieses Mädchen neigte schon immer dazu, gute Ratschläge bevorzugt von sich selbst entgegenzunehmen. Auch fand sie, man dürfe nicht zu viele Kompromisse im Leben eingehen, denn das verderbe den Charakter. Für sie war das Tuch Symbol ihres Erwachsenwerdens.

Betül Ulusoy ging in einen muslimischen Kindergarten und auf eine muslimische Grundschule; erst am Gymnasium fiel dem begabten Mädchen auf, dass es auffiel. Früher bildeten die Nichtmuslime die Peripherie ihrer Welt, jetzt waren sie zu zweit, zwei Muslime in ihrer Klasse, und eine davon war sie. Sollte sie das Tuch vielleicht doch …? Aber nur schwache Naturen kämen auf solche Gedanken. Fortan gewann das Tuch eine zweite Bedeutung: Es war die Probe auf die Stärke ihres Charakters.

Wenn Betül Ulusoy an ihre Lehrer denkt, lächelt sie verzeihend, vorwurfsvoll und nachgiebig zugleich, so wie man auf Kinder reagiert, die es nicht besser wussten. Als sie elf Jahre alt war und noch recht neu an ihrem Hochbegabtengymnasium, wurden im Geschichtsunterricht die Weltreligionen behandelt. Natürlich bekam sie den Islam, möglichst anschaulich sollte der Vortrag sein.

In der Schule sagten ihre Mitschüler, was auch sie wusste, dass sie bessere Noten verdient hätte.
In der Schule sagten ihre Mitschüler, was auch sie wusste, dass sie bessere Noten verdient hätte.

© dpa

Vielleicht hat sie ihren Mitschülern versehentlich alles mitgeteilt, was Gott für sie war. Vielleicht hat sie sogar von ihrem schönsten Ramadan erzählt, damals, als sie noch in Kreuzberg wohnte, ganz nah bei der Mevlana-Moschee. Wie sie mit der Familie und großem Besuch schneebällewerfend zur Moschee geschlittert sind. Und wie sie, dann dicht an dicht mit den anderen stehend, das Gefühl nicht abweisen konnte, als gäbe hier jeder auf jeden acht: Lächeln, wenn einem andere auf den Rockzipfel traten, Wasser holen für fremde Menschen. „Die Herzen sind groß in diesen kleinen Räumen“, formuliert Betül Ulusoy ihr Glaubens- als Gemeinschaftserlebnis. Vielleicht hat sie das ungefähr so auch damals in der Schule erklärt und mit Koran, Gebetskette und Musik Allah leibhaftig zum Hospitieren in ihre Klasse eingeladen. Mag sein, er hat die Einladung angenommen, denn plötzlich stoppte die Lehrerin den CD-Player und schrie die Vortragende an, dass dies hier keine Missionierungsveranstaltung sei, sondern Schule. Betül Ulusoy war traurig und verstört.

Beten, ohne zu denken? Unmöglich, sagt sie

Die Aufklärer haben mal vorgeschlagen, der Mensch solle erst denken und dann beten lernen. Was hält sie von diesem Ansatz? Einen Augenblick lang schaut Betül Ulusoy verblüfft, dann nimmt ihr Gesicht wieder den Ausdruck didaktischer Freundlichkeit an:

Ich glaube nicht, dass man beten kann, ohne zu denken!, antwortet sie. Sie bete überhaupt nie ohne zu denken. Und ob ihrem Gegenüber denn bekannt sei, was das erste Gotteswort war, das Mohammed empfing?

„Lies!“, sagte der Engel Gabriel zu Mohammed. Meinte sie das?

Genau. Fünf Mal, betont sie, befiehlt Gott dem Analphabeten Mohammed: Lies! Betül Ulusoys dunkle Augen leuchten: Eine größere Bildungsreligion als der Islam, steht in diesem Blick, sei doch wohl kaum vorstellbar. Dazu die Inschrift an der Kanzel ihrer Moschee: Jeder Muslim sei verpflichtet, Wissen zu erwerben bis zur Bahre! So ist das.

Betül Ulusoy lehnt sich zurück. Der Prophet hätte einer Frau nie auch nur die Hand gegeben, aber sie nimmt ihm das nicht übel. Jeder kann dazulernen. Glauben und Wissen. Der Islam habe das nie getrennt. Sie findet das gut. Als Betül Ulusoy in die siebte Klasse kam, wollten sie nach Paris fahren. Ihre Lehrerin nahm die bedeckte Schülerin beiseite. Sie würden eine französische Klasse besuchen, mit Kopftuch dürfe sie dort nicht hinein. Entweder sie lege ihr Kopftuch ab, für die ganze Reise, oder sie dürfe am Austausch nicht teilnehmen. Schluchzend lief das Mädchen nach Hause. Natürlich fuhr sie nicht mit.

Die Kassiererin hat für alle ein Wort, nur für sie, das Kopftuchmädchen, nicht

Unlängst diskutierte ganz Frankreich über die Rocklänge einer muslimischen Schülerin in Charleville-Mézière. Knöchellang? Ist das nicht schon, wie die Direktorin argwöhnte, „ein ostentatives Zeichen religiöser Abgrenzung“? Betül Ulusoy darf sich bestätigt fühlen. Die Debatte streift irgendwann das Absurde.

Natürlich trägt sie ihr Kopftuch im Namen Gottes. Der Verdacht, dass sich der Höchste nicht beweisen lässt, ist ihr fremd. Und der Gedanke, dass ein bewiesener Gott wohl kein Gott mehr wäre, zumindest kein lebendiger, verstimmt sie. Betül Ulusoys Augenbrauen, stark wie Trennbalken, ziehen sich zusammen: „Als religiöser Mensch würde ich sagen, wie kann man Gott besser beweisen, als wenn man sich einfach umschaut. Hören Sie nicht das Vogelgezwitscher? Überhaupt: Frühling. Gibt es einen besseren Gottesbeweis als den Frühling?“

Es wäre ruchlos, jetzt über Kants Widerlegung der Gottesbeweise zu reden. Der physikotheologische – die Schönheit seiner Schöpfung beweist den Herrn – war ihm der liebste von allen, zwar unhaltbar, aber doch von tiefer Wahrnehmung. Fehlt ihr der Zweifel?

"Was hättest du mit einem sehr guten Abitur anfangen wollen?"

Zumindest zeigt sie ihn nicht. Das ist ein Privileg der Jugend. Aber sollte eine Frau, die Juristin werden will, nicht darum wissen, dass Europas Geschichte nicht zuletzt die des Zweifels ist?

Betül Ulusoy weiß, was es heißt, ein Kopftuch zu tragen. Im Supermarkt findet die Kassiererin für alle ein Wort, nur für sie, für das Kopftuchmädchen nicht, denn sie ist nicht Person, sie ist entfremdetes Sein. Im Café sitzt sie mit einem Freund und vor ihnen steht plötzlich eine Abgesandte des Feminismus, die den Zufälligen stellvertretend für alle muslimischen Männer geißelt: Unterdrückung der Frau sei doch das Allerletzte. Sie selbst wird nicht angesprochen, denn sie ist niemand. Per Kopftuch bloßes eigenwillenloses Anhängsel des Mannes. Betül Ulusoy hält das aus. Besser unterschätzt als überschätzt. Doch als sie ihr Abitur mit „gut“ machte und Mitschüler ihr sagten, was auch sie wusste, dass sie eine bessere Note verdient hatte, traf es sie doch. Vor allem, als ihre Schulleiterin mitteilte: „Sei doch froh, dass du ein gutes Abitur gemacht hast. Was hättest du mit einem sehr guten Abitur anfangen wollen?“ Eine Frau mit Kopftuch wird Hausfrau. Hausfrauen mit Abitur sind gesellschaftliche Verschwendung, tendenziell.

Es ist paradox, aber diese junge Frau erfüllt auf vorbildliche Weise das humanistische Ideal der Selbstbestimmung, nur hat sie ein Symbol der Fremdbestimmung dafür gewählt. Dies wiederum ist Freiheit.

Betül Ulusoy erwägt, das Bezirksamt zu verklagen. Aber auch wenn sie recht bekommt: Nach Neukölln will sie nicht mehr. Der Staatsdienst bleibt ihr verschlossen, das weiß sie. Unnötig zu fragen, ob sie um der Systemaffirmation willen, die man auch Karriere nennt, das Kopftuch doch irgendwann ablegen würde. Es hätte keinen Charakter.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel.

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