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ARCHIV - 17.06.1953, Berlin: Demonstranten werfen in Berlin mit Steinen nach sowjetischen Panzern. Am 17. Juni 1953 protestierten in der DDR eine Million Menschen gegen den noch jungen sozialistischen Staat - bis sowjetische Panzer den Aufstand beendeten.  (zu dpa "Vor dem 17. Juni: Bundestag und Regierung erinnern an DDR-Aufstand") Foto: -/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

© dpa/-

„Berlin und Korea“: Tagesspiegel-Leitartikel über den 17. Juni 1953

Zeitungsgründer Erik Reger kommentierte seinerzeit den Volksaufstand in der DDR vor dem Hintergrund des Weltgeschehens jener Jahre und erinnerte an die Berlinblockade 1948/49.

Stand:

Zum erstenmal sind es die Ostberliner, die den Namen Berlins als einer der sichersten Stützen des Freiheitskampfes in alle Welt tragen. Als in der Blockadezeit Westberlin ein Beispiel gab, haben wir immer auch der Bevölkerung Ostberlins gedacht, von der wir wußten, daß sie auf unserer Seile stand und begeistert mit mehr als mit den Gedanken bei uns wäre, wenn sie es unter dem roten Joch tun könnte – so wie sie ja auch bei den Wahlen von 1946 ihren Anteil an der Zerschlagung der Kommunisten hatte. Daß wir in Westberlin das wußten, erhöhte unseren Widerstandswillen, und daß unser Widerstandswille so fest blieb, stärkte wiederum die Moral Ostberlins. Damals war zwischen den beiden Teilen der Stadt eine ähnliche Wechselwirkung wie in Westberlin zwischen den Deutschen und den westlichen Alliierten.

Nun also sind es die Ostberliner, die den großen Ruf Berlins erneut befestigen und den vielen, schon etwas leer gewordenen Vergleichswörtern, die man für die Stadt gefunden hat, wieder einen echten Inhalt geben. Die Umstände, unter denen es geschieht, vermehren die Bedeutung. Während ein großer Teil der westlichen Völker, sogar mancher Regierungen, von der sowjetischen Oelzweig-Offensive so benebelt worden ist, daß er in einer Entfernung von vielen hundert Kilometern um Gottes willen nichts mehr für die Stärke des Westens tun will, „weil es die Sowjets reizen könnte“, haben die von den Sowjets Unterdrückten unmittelbar unter den Gewehren der Roten aufbegehrt und einen weithin sichtbaren Ausdruck für die geballte Kraft des Elends gefunden.

Hier hat sich dem Kreml urplötzlich die Kehrseite seiner neuen Taktik gezeigt. Das Ziel, den Westen handlungsunfähig zu machen, hat er schnell und leicht erreicht; zugleich aber haben die Völker im Osten – in ihrer Lage nur zu begreiflich – mehr und mehr Neigung bekommen, in dem jetzigen Kremlspiel ein Zeichen dafür zu erblicken, daß der rote Stern zu sinken beginne. Sie haben Mut geschöpft. Der Westen kann bei seiner Haltung nicht von sich sagen, daß er sie darin unterstützt habe; aber dort, wo die geographische Nähe des Westens ohnehin Hoffnungen nährt, ist im Osten der Mut auch bewiesen worden. In diesem Sinne, als ein aufrichtendes Element ist der Westen zweifellos beteiligt. Dazu tritt jetzt die Pflicht der menschlichen Hilfe, wo die Vorgänge Opfer gleich welcher Art gefordert haben. Aber damit ist der westliche Beitrag auch erschöpft. Die kommunistischen Erklärungen über die „westlichen Provokateure“ die das alles angestiftet haben sollen, unterstreichen durch ihren Wortlaut – der Leser findet ihn in diesen Spalten wiedergegeben – ihre Lächerlichkeit.

Eines ist nicht neu: die kommunistischen Machthaber haben zu allen Zeiten Hunger und Elend als politische Faktoren eingeschätzt – sowohl dort, wo sie einmal zu herrschen hoffen, wie dort, wo sie bereits herrschen. Sie haben aus der feststehenden Tatsache, daß ihr System Hungersnöte auch in den fruchtbarsten Gegenden hervorruft, Kapital zu schlagen verstanden. Massenelend und Funktionärsluxus sind die beiden Pole ihrer Herrschaft. Und das Massenelend ist zugleich der Anlaß, jene angeblich sachlich Schuldigen zu finden, die politisch gerade reif für die Schlachtbank sind. Für Protestkundgebungen als gesteuerte politische Fernwaffen gibt es auf allen Gebieten, insbesondere auf dem der Arbeits- und Lohnverhältnisse, zahlreiche Beispiele. Derartiges ist wohl auch dieses Mal anläßlich des Widerrufes früherer Regierungsmaßnahmen vorbereitet gewesen. Andererseits glaubten die Arbeiter ihre eigenen Angelegenheiten bei dieser „Widerrufaktion“ zu Unrecht übergangen; nachdem sie einige Tage nach der „Rückgängigmachung“ sonstiger Erpressungen gewartet hatten, wollten sie sich in Erinnerung bringen. Diese beiden Ursachen kamen sich am Dienstag entgegen, und daraus, daß einzelne Funktionäre bereits in die Geheimnisse einer gelenkten Protestkundgebung eingeweiht waren, erklärt sich wohl auch die anfängliche Tatenlosigkeit, ja Hilfsbereitschaft der roten Polizei. Aber die Unkontrollierbarkeit der Vorgänge entwickelte sich mit solcher Schnelligkeit, und etwas, was zunächst wie mißmutige Arbeitsniederlegung aussah, schwoll durch die Beteiligung aller, die damit in Berührung kamen, zu solchem Umfang, solcher Vehemenz, solchen Forderungen und solcher jähen Sprengung aller bisher in Sowjetstaaten feststehenden Grenzen an, daß die Machthaber zunächst nur mit fast ehrfürchtigem Staunen vor der Gewalt der Masse, mit der sie sonst doch selbst operieren, zusehen konnten.

Zwischen Karlshorst und Moskau dürften die Funksprüche pausenlos gegangen sein. Die Moskauer hatten derlei gewiß nicht „einkalkuliert“. Aber für sie, denen letztlich die Panzer gehorchen, sind ja die so entstehenden Probleme nicht unlösbar. Im Gegenteil, es bieten sich ihnen nützliche Nebenerscheinungen an. Deshalb mag man im Kreml zunächst geblinzelt haben: gewähren lassen – das illustriert die bei uns herrschende Freiheit, und der Westen wird, ähnlich wie Hitler im finnischen Winterkrieg, als Stalin die ältesten militärischen Klamotten aus der Rumpelkammer holte, unsere Morschheit und Hilflosigkeit freundlich zur Kenntnis nehmen. Der gestrige Tag hat solchen Überlegungen ein Ende gemacht. Noch wenige Stunden, und der Aufstand hätte Formen angenommen, unter denen der Kreml sein fettschlaues Malenkow-Gesicht nach keiner Seite mehr hätte wahren können. Zeitpunkt und Methodik des Eingreifens waren geradezu raffiniert gewählt. Nach außen bleibt es bei dem Anschein, daß man sich in den Sowjetstaaten schon eine ganze Menge Rebellion erlauben könne, und gar auf Arbeiter, „mißleitete“ Arbeiter selbstverständlich, zu schießen – nicht wahr, keine Sowjetseele brächte das fertig. Doch die Wirkungen innerhalb der Sowjetzone werden sich so leicht nicht verwischen lassen. Dies war ein Fanal. Die Sowjets sind Herr der Lage; dazu braucht es unter den gegebenen Umständen nicht viel. Aber sie haben etwas Wesentliches eingebüßt: die Selbstsicherheit ihrer „Planung“. Sie werden vielleicht noch manche Kleinigkeit, auch persönliche „Kleinigkeiten“, opfern, um zu beschwichtigen, an anderem werden sie festhalten; aber irgendein Popanzen-Nimbus ist hin.

Vorerst wird Westberlin, wo gerade eben noch eine ahnungslose Politik die bisherigen Flüchtlinge zur Rückkehr in das „restaurierte Paradies“ hatte überreden wollen, erneut den Strom der vor einer möglichen Verschärfung des Terrors Rettung Suchenden aufnehmen müssen. Aber keine rote Militärdiktatur und kein Geschützdonner kann auslöschen, daß es einen Aufstand gegeben hat und die angeblich in der Sowjetdürftigkeit so zuverlässigen und zufriedenen Arbeiter jeder Kontrolle entglitten sind. Gerade ihre Anklage ist furchtbar. Wir hegen die Hoffnung, daß ihre Tat, so problematisch sie bleiben mußte, das feige Geschwätz im Westen, beschämt über seine Erbärmlichkeit, verstummen läßt. Hinaus mit den Sowjets aus Deutschland, damit Friede wird! Freilich versucht man an einer anderer Stelle, in Korea, mit den Sowjets Frieden zu machen. Dieses Experiment wird schwerlich gelingen – Waffenruhe besagt politisch nicht viel an einer Front, an der sich der westliche Sieger seit beinahe zwei Jahren durch entgegenkommende Verhandlungen mit einem unnachgiebigen Gegner selbst besiegt hat. Wenn die Waffen in Korea schweigen, rufen die Grundprobleme desto lauter nach einer Lösung.

Es ist entweder Metaphysik oder Sophismus, wenn man sagt, die einzige gegenwärtig zu entscheidende Frage sei die des bloßen Überlebens der Koreaner.. Das heißt nämlich Preisgabe des bisher im Westen geradezu als Argument benutzten Glaubenssatzes, daß es darauf ankomme, wie irgendein Teil der freien Welt „überlebt“. Man kann darüber streiten, ob die UN auf die Initiative des damaligen amerikanischen Präsidenten Truman nur eine „kurzfristige“ Verpflichtung eingegangen ist und eine Bürgschaft lediglich für das „Überleben“ der Koreaner übernommen hat; nicht einmal diese ist heute sicher. Kein Zweifel jedoch kann daran sein, daß dann die angeblich neu einzugehende „langfristige“ Verpflichtung der Wiederherstellung der koreanischen Einheit, wenn sie auch politischen Charakter hat, ohne die entsprechende militärische Unterstützung so wertlos ist wie die Aktie eines bankerotten Unternehmens. Daß man willens ist, die Südkoreaner nicht preiszugeben (oder, wie es mit einer bedenklichen Nuance auch anders formuliert wird: nicht willens, sie preiszugeben), bedeutet einstweilen wenig. Man sollte lieber auf die Bemerkung verzichten, es sei alles in der westlichen Macht Liegende getan und alles augenblicklich zu Erreichende erreicht worden. Damit hätte man den Waffenstillstand schon ein Jahr früher zu kaum ungünstigeren Bedingungen haben können.

Präsident Eisenhower hat in einem Briefe an den südkoreanischen Staatspräsidenten Syngman Rhee wörtlich geschrieben: „Korea ist unglücklicherweise nicht das einzige Land, das nach dem zweiten Weltkriege geteilt blieb.“ Diese Andeutung führt uns nach Deutschland, nach Berlin zurück – und man sieht den Unterschied: Südkorea mag in Waffen und Munition von Lieferungen abhängig sein, aber es hat immerhin Truppen, die sich bereits in vielen harten Gefechten bewährt haben. Und selbst wer dem Widerstand Syngman Rhees gegen einen die Wiedervereinigung Koreas nicht sichernden Waffenstillstand nur die Bedeutung einer Geste zugestehen wollte, müßte einräumen, daß in der Bundesrepublik gewisse Leute dafür gesorgt haben, daß dort vorkommendenfalls nicht einmal eine solche Geste der Mißbilligung gemacht werden könnte.

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