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„Verantwortung für Deutschland“ ist der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD überschrieben. Queere Themen spielen darin jedoch kaum eine Rolle.

© dpa/Hendrik Schmidt

Update

Koalitionsvertrag von Union und SPD: „Ein Armutszeugnis“ – queere Verbände warnen vor Rückschritten

Ernüchterung bei queeren Verbänden und Initiativen: Queere Themen spielen im Koalitionsvertrag von Union und SPD kaum eine Rolle. Berlins Queerbeauftragter will deshalb dagegenstimmen.

Stand:

Kein Bekenntnis zum Amt des Queerbeauftragten oder zum Aktionsplan „Queer leben“, keine Ergänzung von Artikel 3 des Grundgesetzes – aber dafür soll das Selbstbestimmungsgesetz auf den Prüfstand: Angesichts des Koalitionsvertrages von Union und SPD warnen queere Verbände, Initiativen und Funktionäre vor queerpolitischen Rückschritten.

Berlins Queerbeauftragter Alfonso Pantisano sprach in einer ersten Reaktion von einem „Armutszeugnis“ für queere Menschen „angesichts der Sorgen und Bedrohungen und Diskriminierungen, denen queere Menschen jeden Tag ins Auge schauen müssen“, wie er auf seinem privaten Instagram-Profil schrieb. „Wir hätten jetzt Klarheit und Sicherheit und Schutz gebraucht – alles, was wir aber nun bekommen, ist eine bittere und enttäuschende Realität“, so Pantisano. Als SPD-Mitglied werde er „diesem Desaster von Koalitionsvertrag“ nicht zustimmen. „Nur über meine Leiche!“, fügte er an.

Auch die FDP kritisierte den Vertrag scharf. Michael Kauch, Bundesvorsitzender der Liberalen Schwulen, Lesben, Bi, Trans und Queer (LiSL), sprach in einer Mitteilung von einer „Null-Nummer für queere Menschen“. Außer weniger warmer Worte hätten Union und SPD nichts für queere Menschen zu bieten. „Konkret gibt es nichts zu Artikel 3 des Grundgesetzes, kein neues Abstammungsrecht, kein Schutz für Regenbogenfamilien, kein Bekenntnis zum bisherigen nationalen Aktionsplan für Akzeptanz und sogar dröhnendes Schweigen in der Außen- und Entwicklungspolitik zur Verfolgung von Lesben, Schwulen und Trans* in der Welt“, so Kauch.

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Keine konkreten Maßnahmen gegen queerfeindliche Hasskriminalität

Auch aus Sicht des Berliner CSD enthält der Koalitionsvertrag „nur wenige substanzielle Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensrealität queerer Menschen“, wie der Trägerverein am Donnerstag mitteilte. CSD-Vorstand Thomas Hoffmann sprach von einem „ernüchternden Signal“, dass etwa konkrete Maßnahmen gegen Hasskriminalität nicht erwähnt würden. Hoffmann forderte „entschlossene Maßnahmen zum Schutz vor queerfeindlicher Gewalt und zur Stärkung von Communitystrukturen“. 

In dem am Mittwoch von CDU, CSU und SPD vorgestellten 144-seitigen Papier kommt das Wort „queer“ lediglich an zwei Stellen vor. Im Abschnitt „Gesundheitsforschung und zielgruppengerechte Versorgung“ heißt es: „Medizinische Vorsorge, Behandlung und Forschung gestalten wir geschlechts- und diversitätssensibel (inklusive queere Menschen) aus und berücksichtigen dabei die speziellen Bedürfnisse in jedem Lebensabschnitt aller Geschlechter.“

Zudem verpflichtet sich die künftige Koalition dazu, „queeres Leben vor Diskriminierung zu schützen“. Es müsse „für alle Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, selbstverständlich sein, gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei leben zu können“. Mit „entsprechenden Maßnahmen“ soll Bewusstsein geschaffen, sensibilisiert und „Zusammenhalt und Miteinander“ gestärkt werden – weiter ausgeführt wird das jedoch nicht.

Der von der Ampelregierung gestartete Aktionsplan „Queer leben“ mit 134 Maßnahmen wird etwa nicht erwähnt. Ebenso fehlt eine seit Langem von queeren Verbänden geforderte Ergänzung des Artikel 3 des Grundgesetzes, um explizit auch queere Menschen vor Diskriminierung zu schützen.

Das sei besonders enttäuschend, teilte Marcel Voges vom Vorstand des Berliner CSD mit. „Die Berliner Landesregierung hat uns beim CSD 2023 eine Bundesratsinitiative zum Schutz queerer Menschen im Grundgesetz zugesagt. Jetzt ist es höchste Zeit, dieses Versprechen einzulösen. Aus der Regenbogenhauptstadt Berlin sollte jetzt ein deutliches Signal kommen.“

Angesichts der jährlich steigenden Zahl von Angriffen auf LSBTIQ* Personen muss das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erhalten bleiben und der Aktionsplan ‚Queer leben‘ fortgeführt werden.

Erik Jödicke vom Bundesvorstand des LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt

Ob es in der künftigen Bundesregierung wieder einen Queerbeauftragten geben wird, bleibt fraglich – genannt wird das Amt im Koalitionsvertrag nicht. Vielmehr wollen Union und SPD das „ausgeuferte Beauftragtenwesen“ um 50 Prozent reduzieren. „Angesichts der jährlich steigenden Zahl von Angriffen auf LSBTIQ* Personen muss das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erhalten bleiben und der Aktionsplan ‚Queer leben‘ fortgeführt werden“, forderte Erik Jödicke vom Bundesvorstand des LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt in einer ersten Stellungnahme.

Selbstbestimmungsgesetz soll bis Mitte 2026 evaluiert werden

Das ebenfalls von der Ampel verabschiedete Selbstbestimmungsgesetz will die künftige schwarz-rote Koalition auf den Prüfstand stellen. „Wir werden das Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag bis spätestens 31. Juli 2026 evaluieren“, heißt es dazu im Koalitionsvertrag. Bei der Überprüfung des Gesetzes solle dann ein besonderer Fokus auf „die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die Fristsetzungen zum Wechsel des Geschlechtseintrags sowie den wirksamen Schutz von Frauen“ gelegt werden, heißt es.

Außerdem solle „bei berechtigtem öffentlichen Interesse“ die Nachverfolgbarkeit von Personen nach einer Namensänderung verbessert werden, schreiben die künftigen Koalitionäre. Dies solle Teil einer Namensrechtsreform werden, die ebenfalls im Koalitionsvertrag verankert ist. In ihrem gemeinsamen Wahlprogramm hatten CDU und CSU noch die komplette Abschaffung des Gesetzes gefordert. Nun stellen Union und SPD klar: „Wir wahren die Rechte von trans- und intersexuellen Personen.“

Die Linke befürchtet jedoch einen Rückschritt: „Die angekündigte ‚Evaluation‘ des Selbstbestimmungsgesetzes unter dem Vorwand vermeintlichen Frauen- und Kinderschutzes signalisiert, wo die Reise hingehen soll: Die Union wird versuchen das Gesetz teilweise rückabzuwickeln“, teilte die Arbeitsgemeinschaft „Die Linke queer“ mit.

Auch der LSVD⁺ teilt diese Befürchtung: „Wir warnen davor, das Selbstbestimmungsgesetz jetzt ohne Not anzufassen und Verschlechterungen zu riskieren. Trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen haben sich jahrzehntelang für diesen Meilenstein eingesetzt“, sagte Bundesvorstandsmitglied Jödicke.

Nora Eckert vom Bundesverband Trans* teilte mit: „Die festgehaltene Schwerpunktsetzung der Evaluation erinnert eher an die polarisierte gesellschaftliche Debatte, in der das Selbstbestimmungsgesetz beispielsweise als Gefahr für Frauen oder Kinder dargestellt wurde. Die geplante Evaluation muss sich am gesetzlichen Auftrag und nicht an vorurteilsbehafteten Annahmen orientieren.“ Im Gesetz sei festgelegt, dass geprüft werden soll, ob das Gesetz gemäß verfassungs- und europarechtlichen Grundsätzen die geschlechtliche Selbstbestimmung stärkt. Dieser Fokus finde sich im Koalitionsvertrag nicht.

LSVD: „Koalitionsvertrag bringt queere Geflüchtete in Lebensgefahr“

Dass die neue Regierung humanitäre Aufnahmeprogramme wie das für Ortskräfte und Menschenrechtler aus Afghanistan beenden will, kritisiert LSVD-Vorstand Jödicke scharf: „Der Koalitionsvertrag bringt queere Geflüchtete in Lebensgefahr“, teilte er mit. Durch eine „unkoordinierte Beendigung des Aufnahmeprogramms“ drohe Hunderten queeren Afghan*innen „ihre grausame Ermordung“ durch die Taliban.

Das kritisiert auch der Bundesverband Trans*. „Gerade für mehrfachmarginalisierte queere Personen wie LSBTIQ*-Geflüchtete sieht der Vertrag massive Verschlechterungen vor, die Menschenleben gefährden“, so Vorständin Nora Eckert. „Die künftige Regierung nimmt an dieser Stelle Menschenrechtsverletzungen in Kauf.“

Ebenso blickt der Verein Quarteera mit Sorge auf den Koalitionsvertrag. „Es muss legale und sichere Einreisewege für alle queeren Personen geben, die vor Krieg, Verfolgung und queerfeindlicher Hassgewalt in ihren Ländern nach Deutschland fliehen“, sagte Anna Seib, Leiterin des Quarteera-Beratungszentrums in einer Mitteilung am Donnerstag. Gerade die Einstufung von sicheren Herkunftsländern, zum Beispiel Georgien, sieht sie mit Blick auf queere Geflüchtete sehr kritisch. Sie dürften „als besonders schutzbedürftige Gruppe nicht die Leidtragenden dieser verschärften Migrationspolitik werden.”

Ein weiterer Punkt: Erik Jödicke vom LSVD forderte „eine möglichst rasche Reform des Abstammungsrechts“, das bislang queere Familien mit Neugeborenen benachteiligt. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu lediglich, dass sich die künftige Koalition „bei Reformen des Familienrechts und Familienverfahrensrechts ... vom Wohl des Kindes leiten lassen will“.

Das begrüßt der LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt. „Wer das Kindeswohl als Maßstab nimmt, muss die Diskriminierung der Kinder aller queerer Eltern aufgrund deren Geschlechts und Familienmodells endlich beenden“, sagte Bundesvorstandsmitglied Jödicke. Die Zuordnung der zweiten Elternstelle müsse unabhängig vom Geschlecht des Elternteils unmittelbar nach der Geburt erfolgen.

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