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Ein Mädchen bekommt eine Impfung beim Arzt.

© IMAGO/HalfPoint Images

Immer weniger Deutsche lassen sich immunisieren: „Wir brauchen einen bundesweiten Impfbeauftragten“

Deutschland könnte 300 Millionen Euro sparen, wenn mehr Menschen die Bedeutung von Impfungen verstehen würden, sagt Andreas Pollner, Geschäftsführer des Impfstoff-Entwicklers Moderna.

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Herr Pollner, Ende April war die Immunization Week der WHO. Für Sie ist diese Woche eine Art „Wake-up-Call“. Wie steht es denn um die Impfquoten?
Wir müssen leider seit Jahren sinkende Impfquoten zur Kenntnis nehmen. Es gab zwar eine kurze Phase inmitten der Covid-Pandemie, in der das Impfen wieder stärker ins Blickfeld gerückt ist. Doch jetzt gehen die Quoten gerade bei den Covid- und Grippe-Impfungen massiv runter.

Bei Grippe liegen wir inzwischen bei unter 40 Prozent derjenigen, für die es eine Empfehlung gibt. Das sind fast 15 Millionen Ungeimpfte, und die Zahl wird bis 2030 mit der Alterung der Bevölkerung auf etwa 18 Millionen ansteigen. Das ist dramatisch, wenn man sich klarmacht, was ungeimpft bedeutet: Erkrankte müssen zum Arzt gehen – oder, schlimmer noch, im Krankenhaus eingeliefert werden. Das bindet unnötig Ressourcen.

Gerade in diesem Jahr hat die Grippewelle gewütet. Warum sind die Deutschen so impfmüde geworden? Ist das aus ihrer Sicht auch eine Folge der Pandemie, wo der Druck, sich impfen zu lassen, groß war?
Wir haben noch nicht die letzten Zahlen der 2024/25er-Saison, aber schon im Jahr zuvor hatten wir aufgrund von Grippe, Covid und RSV mehr als 10.000 Intensivfälle. Die damit verbundenen Kosten sind enorm. Was sind nun die Motivatoren? Auf der einen Seite ist es tatsächlich so, dass wir eine Impfmüdigkeit feststellen und die hat sicherlich auch einen Ursprung in der Pandemie.

Auf der anderen Seite geht es auch um Vertrauen in unser Gesundheitssystem – nach dem Motto, na gut, dann habe ich halt eine Grippe und gehe notfalls auch ins Krankenhaus für ein paar Tage, wir haben ja ein gutes Gesundheitssystem. In anderen Ländern, wie zum Beispiel in England, ist das Narrativ ein ganz anderes. Da heißt es nämlich: Vermeide, krank zu werden und ins Krankenhaus zu gehen.

Die Grippe-Impfquote liegt dort nahe an den 75 Prozent. Dort wird aber auch sehr systematisch durchgeimpft durch die Hausärzte und entsprechend vorbereitet und gesteuert vom Staat. Ähnlich ist es in Frankreich. Dort finden seit der Pandemie fast 90 Prozent der Impfungen in Apotheken statt. Zusammenfassend ist es also eine Kombination aus Impfmüdigkeit, einem gewissen Maß an Erwartung, dass das eigene Immunsystem oder auch das Gesundheitssystem die eigene Erkrankung aufhängt und der fehlende niederschwellige Zugang zur Impfung.

Damit sind wir bei den Themen aus dem Koalitionsvertrag. Apotheken sollen künftig mehr impfen dürfen. Zum Teil dürfen sie das jetzt schon, tun es aber kaum. Woran liegt das dann eigentlich?
Die Situation ist in der Tat so, dass zwei Impfungen angeboten werden können: gegen Grippe und Covid aus staatlich gekauften Impfdosen. Zur Frage, was sie am Impfen hindert, haben wir eine Umfrage unter rund 200 Apotheken gemacht. Zum einen gibt es tatsächlich bestimmte Barrieren in den Vorschriften. Es müssen beispielsweise bestimmte Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, damit die Impfungen dort stattfinden können.

Zudem müssen Impf-Zertifikate erworben werden. Nicht zuletzt sei auch der finanzielle Anreiz relativ gering. Von den 200 Apotheken, die wir befragt haben, sehen das Impfangebot gerade mal 30 Prozent als interessant an. Wir sprechen auch viel mit Apothekenvereinigungen. Auch von ihnen hören wir, dass da ein betriebswirtschaftlicher Faktor dahintersteht. Die Dokumentation ist nicht so einfach und muss sichergestellt werden.

Hier könnten die digitalen Impfpässe helfen. Manchmal sind es auch Themen wie, welche Impfstoffe angeboten werden. Impfstoffe, die erst noch rekonstituiert werden müssen, machen das Impfen in den Apotheken nicht leichter. Wir bieten unsere Impfstoffe hingegen als Fertigspritzen an, was sehr positiv ankommt bei den Apotheken und Hausärzten. Ich befürworte auf jeden Fall, Apotheken stärker mit einzubeziehen in die Prävention.

Nicht nur das fehlende Impfverständnis ist hierzulande ein Problem, sondern das Gesundheitsverständnis insgesamt.

Andreas Pollner, Geschäftsführer von Moderna Deutschland

Bleiben wir beim Koalitionsvertrag. Deutschland diskutiert seit einigen Wochen intensiv über die Einführung eines Primärarztsystems. In der letzten Legislaturperiode wurden die Hausärzte bereits entbudgetiert. Damit zusammen hängt auch die Erwartung der Politik, dass sie mehr leisten – zum Beispiel mehr Aufklärung in Sachen Impfangebote. Was versprechen Sie sich davon?
Wir hören von vielen Hausärzten, dass sie es oft mit keiner einfachen Form der Aufklärung zu tun haben. Wenn sie auf Patienten treffen, die schon impfskeptisch sind, dann werden sie sich nicht die 10 oder 15 Minuten Zeit nehmen, um da doch jemanden von der Impfung zu überzeugen. Wir brauchen grundsätzlich mehr Aufklärung – und zwar gefördert durch die öffentliche Hand mit Unterstützung aus der Privatwirtschaft.

Meines Erachtens nutzen wir zu wenig unterschiedliche Kanäle. Wir haben gesehen, dass es gerade in der Gruppe der über 60-Jährigen viel Interesse gibt, sich auch online, in sinnvollen Medien aufzuklären zu lassen. Wir selbst arbeiten mit Partnern zusammen, die Hausärzten Aufklärungs-Apps an die Hand geben. Ich glaube, diese Formen der modernen Aufklärung sollten wir mehr nutzen. Zum Beispiel, um die Grundlagen der mRNA-Technologie zu erklären.

Es ist sehr wichtig, dass auch die Patienten besser verstehen, welche Innovationen es auch im Impfbereich gibt. Ich hoffe, dass die neue Bundesregierung hier dranbleibt. Karl Lauterbach hatte ja schon einiges unternommen, was die öffentliche Aufklärung und Ausbildung angeht. Nicht nur das fehlende Impfverständnis ist hierzulande ein Problem, sondern das Gesundheitsverständnis insgesamt.

Jetzt haben wir über mehrere Einzelaspekte aus dem Koalitionsvertrag gesprochen, die sich alle unter dem großen Thema Prävention zusammenfassen lassen. Das wird immer wichtiger, wenn wir nur auf die finanzielle Situation in der gesetzlichen Krankenversicherung schauen. Union und SPD wollen mit mehr Prävention sofort 500 Millionen Euro einsparen. Ist das realistisch?
Die Arbeitsgruppe Gesundheit hatte sogar Einsparungen in Höhe von einer Milliarde Euro über Präventionsmaßnahmen vorgesehen, was ich für sehr ambitioniert halte. Im Koalitionsvertrag selbst findet man nun nur noch einige wenige Aspekte. Meine Hoffnung ist, dass auch die Arbeiten aus der Gesundheitsgruppe weitergetragen werden und sich die neue Gesundheitsministerin sehr konkrete Themen anguckt.

Würden wir allein die etwa 10.000 Intensivstationsfälle im Bereich der Grippe, RSV und Covid aus dem Jahr 2023/24 verhindern, könnten allein fast 300 Millionen Euro gespart werden. Das gelingt aber nur, wenn wir die Impfquoten signifikant hochziehen. Und das ist eine Teamwork-Aufgabe.

Wie bekommt man alle ins Boot?
Die Verbände sind sehr aktiv. Wir hatten diese Woche einen Impfgipfel, der sehr divers besetzt war mit Politik, verschiedenen Unternehmen und Verbänden. Da gibt es schon einen sehr guten Austausch. Wir sehen auch viel Offenheit für den Dialog. Was uns aber tatsächlich fehlt, ist jemand, der sich wirklich mit dem Thema Koordination von Impfung und dem Voranbringen von Initiativen beschäftigt. Wir können uns vorstellen, dass man einen bundesweiten Impfbeauftragten installiert.

Vertrauen wieder herzustellen und zu stärken, ist ein ganz zentraler Faktor.

Andreas Pollner, Geschäftsführer von Moderna Deutschland

Am neuen Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit?
Absolut. Ich hoffe, dass die neue Bundesregierung die neue Einrichtung zu einer sehr wirkungsvollen und pragmatischen Institution entwickelt.

Aufgabe des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit dürfte auch die Vertrauensbildung sein
Ja. Vertrauen wieder herzustellen und zu stärken, ist ein ganz zentraler Faktor. Wir sehen, dass das in anderen europäischen Ländern noch besteht, gestärkt ist, gerade auch in England oder auch in den nordischen Staaten. Und hier sollten wir, glaube ich, einiges tun, was das Verständnis angeht, die Aufklärung – übrigens auch bei den Ärzten.

Ich habe mit verschiedensten Hausärzten gesprochen, die mir gesagt haben, sie hätten vieles, was sie in der Pandemie gelernt hätten, schon wieder vergessen. Also Aufklärung, Vertrauen in wissenschaftliche Aspekte und ein niedrigschwelliger Zugang zu Impfungen sind entscheidend für den Erfolg dieser Präventionsmaßnahmen.

Die Präventionsmöglichkeiten durch das Impfen dehnen sich immer weiter aus. Welche Innovationen sind im Impfstoffsegment in den nächsten Jahren zu erwarten?
Allein wir von Moderna wollen in den nächsten Jahren rund zehn Impfstoffe an den Markt bringen. Und wir sind nicht allein. Das Robert Koch-Institut hatte sich gerade einen Überblick verschafft und geht davon aus, dass es in den kommenden Jahren etwa 30 Zulassungen geben wird. Das ist mit der Personalstärke in den Zulassungsbehörden überhaupt nicht zu leisten. Insofern ist es, glaube ich, sehr wichtig, dass die Empfehlungen der Stiko relativ kurz nach den Zulassungen durch die Ema erfolge.

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