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Estlands Premierministerin Kaja Kallas könnte demnächst das Amt der europäischen Chefdiplomatin übernehmen.

© Phil Dera für den Tagesspiegel

„Zeitenwende“ in Brüssel?: Wer besetzt die EU-Spitzenämter in der kommenden Amtszeit?

Vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs zeichnet sich ein Konsens für eine zweite Amtszeit von EU-Kommissionschefin von der Leyen ab. Neu ins Amt könnte hingegen die Estin Kaja Kallas kommen.

Stand:

Wenn EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola am Montagabend zum Auftakt des informellen EU-Gipfels in Brüssel eine Nachlese der Europawahl betreibt, wird auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen dabei sein. Die Einladung ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es gut läuft für die CDU-Politikerin, die eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionschefin anstrebt. Denn bei dem anschließenden Abendessen in Brüssel soll eine Vorentscheidung für die Besetzung des EU-Spitzenamtes fallen.

Neben dem Posten der Kommissionschefin wollen die Staats- und Regierungschefs aber nach der Europawahl auch über ein ganzes Personalpaket für die nächsten fünf Jahre beraten. „Es gibt einen zunehmenden Konsens über drei Personen: Ursula von der Leyen, António Costa und Kaja Kallas“, hieß es in EU-Diplomatenkreisen. Demnach könnte der frühere portugiesische Premierminister Costa die Nachfolge des gegenwärtigen EU-Ratschefs Charles Michel antreten. Die estnische Regierungschefin Kallas wiederum hat gute Chancen, neue EU-Außenbeauftragte zu werden.

Eine Ernennung von Kallas zur Nachfolgerin des gegenwärtigen EU-Chefdiplomaten Josep Borrell käme einer Art „Zeitenwende“ auf europäischer Ebene gleich. Denn die estnische Regierungschefin gehört zu denjenigen in der EU, die seit dem Überfall auf die Ukraine einen besonders scharfen Kurs gegenüber Russland verfolgen. Das hat der 46-Jährigen in Brüssel in der Vergangenheit einige Kritik eingebracht.

Parteipolitische Arithmetik

Doch mittlerweile scheinen auch die Skeptiker überzeugt, dass Kallas für das EU-Spitzenamt geeignet ist. Hinzu kommt die parteipolitische und geographische Arithmetik, die sich zu Gunsten der Baltin auswirkt. Kallas ist Liberale und kommt aus Osteuropa. Damit würde sie für die nächsten fünf Jahre ein ausgeklügeltes Personaltableau vervollständigen: Von der Leyen würde als alte und neue Kommissionschefin die Konservativen und Westeuropa vertreten, während der Costa der Kandidat der Südeuropäer und der Sozialdemokraten ist.

Zu guter Letzt gilt noch die amtierende EU-Parlamentschefin Metsola als gesetzt. Die Malteserin könnte für weitere zweieinhalb Jahre auf ihrem bisherigen Posten bleiben. Dies entspricht auch dem Wunsch der konservativen EVP, die aus der Europawahl als stärkste Kraft hervorgegangen war.

Kanzler Olaf Scholz befürwortet eine zweite Amtszeit von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen.

© AFP/LUDOVIC MARIN

Kanzler Olaf Scholz (SPD) sei recht zuversichtlich, dass das EU-Personaltableau bis Monatsende steht, hieß es aus Berliner Regierungskreisen. Am Donnerstagabend hatte Scholz sich am Rande des G-7-Gipfels in Italien mit von der Leyen und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron getroffen. Macron ließ zwar bei dem G-7-Treffen an der Adriaküste nicht durchblicken, ob er von der Leyen unterstützt. Dennoch wird damit gerechnet, dass Macron gemeinsam mit Scholz eine zweite Amtszeit der Deutschen befürworten wird.

Dass der Kanzler die CDU-Politikerin unterstützt, hat sich schon seit längerem abgezeichnet. Auch Macron hat offenbar kein Interesse daran, dass in politisch unsicheren Zeiten auch noch ein politisches Vakuum auf EU-Ebene hinzukommt. Der Krieg in der Ukraine und Themen wie der drohende Handelskrieg zwischen China und den USA lassen nicht zu, dass sich die EU in einer langwierigen Personaldebatte verzettelt.

Es wird erwartet, dass Ungarns Regierungschef Viktor Orban seine Zustimmung für Kommissionspräsidentin von der Leyen verweigert.

© REUTERS/LEONHARD FOEGER

Eine einstimmige Unterstützung braucht von der Leyen von den Staats- und Regierungschefs nicht, ein mehrheitliches Votum reicht. Dabei zeichnen sich aber keine Gegenstimmen ab – abgesehen von Ungarns Regierungschef Viktor Orban.

Zum endgültigen Schwur der Staats- und Regierungschefs dürfte es voraussichtlich aber erst beim regulären EU-Gipfel am 27. und 28. Juni kommen. Wie es in EU-Diplomatenkreisen hieß, habe Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni ein Interesse daran, die endgültige Entscheidung bis Ende Juni hinauszuzögern. Die italienische Regierungschefin, die gleichzeitig Chefin der postfaschistischen Partei „Fratelli d’Italia“ ist, wolle auf diesem Weg Druck aufbauen, um ihrer nationalkonservativen Parteienfamilie EKR den Posten eines Vize-Präsidenten in der neuen EU-Kommission zu sichern.

Entscheidungen am 18. Juli

Weil noch nicht alle künftigen Europaabgeordneten erklärt haben, welchen Fraktionen sie im Europaparlament demnächst angehören wollen, steht auch deren endgültige jeweilige Personalstärke noch nicht fest. Denkbar ist es, dass die EKR-Fraktion am Ende zur drittstärksten Fraktion in Straßburg wird und die Liberalen überrundet.

Wenn alles nach dem Plan von der Leyens läuft, wird sich die Kommissionspräsidentin in spe am 18. Juli vom Europaparlament bestätigen lassen. Den nötigen Stimmensockel sollen ihr nach jetzigem Stand die EVP, die Sozialdemokraten und die Liberalen liefern. Politisch entscheidend ist indes, bei welcher Fraktion sich von der Leyen weiter absichern will, um ihre Mehrheit wasserdicht zu bekommen – bei den Grünen oder bei der EKR.  Fest steht jedenfalls: Sie braucht mindestens 361 von insgesamt 720 Stimmen im Europaparlament, um ein zweites Mal ins Amt zu gelangen.

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