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Stärke zeigen. Israel ist eine Großmacht im Nahen Osten, vor allem militärische und wirtschaftlich.

© AFP/Jack Guez

Eine Nation als Start-up: Wie Israel seit 75 Jahren aus Krisen neue Kraft zieht

Konflikte und Kriege gehören zur DNA Israels. Doch der jüdische Staat hat es in seiner 75-jährigen Geschichte immer wieder geschafft, Niederlagen und Fehler in Erfolge umzuwandeln.

Ein Gastbeitrag von Richard C. Schneider

Keine Frage, der jüdische Staat hat viele Probleme derzeit. Durch die israelische Gesellschaft geht ein tiefer Riss, die Frage, ob das Land eine Demokratie bleibt oder nach den Plänen der Regierung Netanjahu das politische System so verändert wird, dass es keine Gewaltenteilung und damit keine Kontrolle über die Politik mehr geben könnte, lässt große Teile der Bevölkerung seit Wochen auf die Straße gehen.

Außenpolitisch wirkt alles gewissermaßen wie immer. Der Konflikt mit den Palästinensern ist nicht gelöst, es kommt immer wieder zu Wellen der Gewalt. Dann ist da noch der Iran, der nach der Atombombe greift und mit seinen Stellvertretern und Verbündeten – der Hisbollah im Libanon, Milizen in Syrien oder der Hamas und dem Islamischen Dschihad in Gaza – Israel immer weiter einschnürt.

Doch gerade, wenn man auf all diese Krisen schaut, steht der 75. Jahrestag der Staatsgründung erst recht im Zeichen einer schier unglaublichen Erfolgsgeschichte. Israel ist seit Jahren trotz aller Widerstände und existentiellen Schwierigkeiten ein wirtschaftliches, technologisches, militärisches und wissenschaftliches Powerhaus.

Die Start-Up-Nation, wie Israel auch genannt wird, ist der zweitwichtigste Hightech-Hub der Welt, gleich nach Silicon Valley. Das allein zeigt, wozu Israelis fähig sind, fähig sein müssen, um zu überleben.

Man lernte vor allem, alles zu nehmen, was man angeboten bekam: Territorium, Rechte, Unterstützung.

Richard C. Schneider, ehemaliger ARD-Korrespondent in Israel

Im Grunde ist das kleine Land selbst ein „Start-up“. Während europäische Staaten meist das Ergebnis der Selbstermächtigung eines Volkes sind, die auf einem bestimmten Territorium leben, ist Israel aus einer Idee und der Sehnsucht eines weltweit zerstreuten Volkes entstanden, das 2000 Jahre in seinen Gebeten die Rückkehr nach „Zion“ beschworen hat.

Als Theodor Herzl 1896 sein Buch „Der Judenstaat“ schrieb, tat er das unter dem Eindruck des antisemitischen Dreyfus-Prozesses in Frankreich. Dem Wiener Journalisten wurde damals klar, dass Juden in Europa keine Zukunft haben, dass sie nirgends unbehelligt gemäß ihrer Kultur und Traditionen leben könnten, außer in einem jüdischen Staat. Der Zionismus war geboren. Und wie die späteren Tech-Nerds agierten die frühen Zionisten nach dem Prinzip „Trial-and-Error“.

Jüdischer Charismatiker. Theodor Herzl.
Jüdischer Charismatiker. Theodor Herzl.

© Imago/United Archives International

Man lernte, in dem man voranschritt und Fehler machte. Im Umgang mit den Großmächten der Zeit, der britischen Mandatsmacht in Palästina und der arabischen Bevölkerung im Land. Man lernte vor allem, alles zu nehmen, was man angeboten bekam: Territorium, Rechte, Unterstützung. Um dann weiterzumachen und mehr zu fordern.

Die Juden, die nach Palästina auswanderten, waren beseelt von einer Vision. Und hatten zugleich eine Eigenschaft, die allen Migranten zu eigen ist: Sie waren flexibel und bereit, sich neu erfinden. Das gilt bis heute, für jede Immigrationswelle. Man scheitert, man steht auf, man macht immer weiter. Denn es geht buchstäblich ums Überleben.

Für Israel gab es anfänglich keine Vorgaben, wie in anderen Staaten und Völkern, die seit Jahrhunderten, ja, Jahrtausenden an einem Ort existieren und leben. Alles war möglich. Es setzte sich durch, was in der Praxis am besten funktionierte.

Vor allem gab es kein Zurück. Die Menschen wussten, dass das, was sie hinter sich gelassen hatten in Europa, in Russland, später dann in den orientalischen Ländern, für sie keine Option mehr war. Nach der Shoah galt das erst recht. Israel musste eine Erfolgsstory werden. Alles andere hätte das Ende des jüdischen Volkes bedeutet.

Der Tag. Am 14. Mai 1948 verkündete David Ben Gurion die Gründung des Staates Israel.
Der Tag. Am 14. Mai 1948 verkündete David Ben Gurion die Gründung des Staates Israel.

© AFP/-

Als Israel am 14. Mai 1948 von David Ben Gurion proklamiert wurde, lebten gerade mal ein paar Hunderttausend Juden im Land. Sie sahen sich mehreren Armeen gegenüber, Millionen von Arabern, die sie mit ihrem Staat „ins Meer werfen“ wollten.

Erfindergeist statt Bodenschätze

Weil von Anfang an klar war, dass man mit der Quantität des Feindes nicht mithalten konnte, musste man das mit Qualität kompensieren. Es gab keine Bodenschätze, sondern nur den Erfindergeist der Menschen, den „jiddischen Kopp“.

Die Entwicklung Israels seit dem UN-Teilungsplan 1947.
Die Entwicklung Israels seit dem UN-Teilungsplan 1947.

© Grafik: Tsp/Bartel | Quelle: AFP, UNO, israelisches Außenministerium

Sehr früh begann die israelische Armee zum Beispiel in neue Technologien zu investieren. So konnten schon in den 1980er Jahren Aufklärungsflugzeuge in Echtzeit den Truppen am Boden feindliche Ziele übermitteln, was damals ziemlich einzigartig war.

Israels geostrategische Lage und die europäisch orientierte Kultur der frühen Jahre führte dazu, dass das Land ein westlicher Außenposten im Nahen Osten wurde, der über Jahrzehnte ein Schauplatz des Ost-West-Konflikts war. Später verband der Kampf gegen den islamistischen Terror Israel, die USA und die Europäer.

Dass Israel in seiner Geschichte immer wieder am Rand des Abgrunds stand, gehörte fast schon zur DNA dieses Landes.

Richard C. Schneider, ehemaliger ARD-Korrespondent in Israel

Flexibilität bestimmte die israelische Politik immerzu. Vor allem mit seinem technologischen und wissenschaftlichem Knowhow suchte sich der jüdische Staat neue Märkte, wie das aufstrebende China und Indien, aber auch zu Afrika gibt es enge Beziehungen, zunehmend auch im arabischen Raum.

Seit Jahrzehnten stehen sich Palästinenser und Israelis unversöhnlich gegenüber (Archivbild).
Seit Jahrzehnten stehen sich Palästinenser und Israelis unversöhnlich gegenüber (Archivbild).

© Reuters/Amit Shabi

Israel ist trotz massiver Kritik an seiner Politik gegenüber den Palästinensern ein beliebter Kooperationspartner in vielen Bereichen geworden und versucht ständig zu expandieren, der Markt für Israels Tech-Möglichkeiten ist riesig. Auch Bundesrepublik profitiert davon. Derzeit kauft sie als Folge des Ukrainekrieges israelische Luftabwehrraketen vom Typ „Arrow 3“ ein.

Dass Israel in seiner Geschichte immer wieder am Rand des Abgrunds stand, gehörte fast schon zur DNA dieses Landes. Krisen und Kriege sind immanenter Bestandteil eines Lebensgefühls, darauf wird mit einer gewissen Selbstverständlichkeit reagiert – ein Beweis für die Resilienz der israelischen Gesellschaft gegenüber Bedrohungsszenarien aller Art.

Eine gewisse Paranoia ist präsent

Auf der anderen Seite lebt das Land auch ständig mit der Angst vor der Auslöschung, eine gewisse Paranoia ist stets präsent, so mancher Politiker hat genau damit gespielt, um Ziele durchzusetzen, die selbst im eigenen Land umstritten waren.

Der Riss, der heute durch die israelische Gesellschaft geht - der Versuch der rechtsextremen und religiösen Regierung, ein anderes Israel zu schaffen, einen Staat, der nicht mehr „jüdisch und demokratisch“, sondern eher nur „jüdisch“ wäre - ist die Folge einiger Fehlkonstruktionen, die dem Staat seit seinen Anfängen innewohnen.

Regierungschef Netanjahu behauptet, die Demokratie sei nicht in Gefahr. Zehntausende Israelis sehen das anders.
Regierungschef Netanjahu behauptet, die Demokratie sei nicht in Gefahr. Zehntausende Israelis sehen das anders.

© dpa/Ohad Zwigenberg

Es war David Ben Gurion, der spätere erste Premier Israels, der den Ultraorthodoxen im Prinzip das Monopol auf religiöse Angelegenheiten im Land überließ. Eine Trennung von Staat und Synagoge gibt es bis heute nicht, der Einfluss der Frommen wächst stetig.

Ein zweites Problem: Israel hat keine Verfassung, unter anderem weil die Orthodoxie stets darauf beharrte, das jüdische Volk hätte mit der Halacha, dem Religionsgesetz, de facto ja bereits eine.

Die Krise im heutigen Israel ist also auch das Ergebnis dieser beiden Fehlentscheidungen. Es geht nicht nur darum, dass Siedler und Orthodoxie einen halachischen Staat und die Annexion der besetzten Gebiete wollen, es geht nicht nur darum, dass Premier Netanjahu, gegen den ein Prozess wegen mutmaßlicher Korruption läuft, ein Profiteur der geplanten „Justizreform“ sein könnte.

Zum 75. Geburtstag kämpfen Israelis um nichts weniger als die Seele ihres Staates. Die Start-up-Welt reagiert extrem nervös. Israel, wenn man so will, befindet sich wieder einmal im Existenzkampf.

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